Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Geschichte.«
Von jenem Tag an war mein Ansehen bei den Mädchen der Roe Head School ins Unermessliche gestiegen. Nie wieder wurde ich wegen meines Aussehens, meiner Kleidung oder meines Akzents gehänselt. Die Mädchen akzeptierten mich, wie ich war, sogar Amelia. Ellen und Mary wurden meine besten Freundinnen, und jene Mädchen, die mich einmal mit Verachtung gestraft hatten, schienen mich nun mit Respekt zu betrachten und kamen oft zu mir, um sich bei ihren Schularbeiten von mir beraten und helfen zu lassen.
Im Laufe des Schuljahrs überredete man mich bei vielen Gelegenheiten – und trotz der Gefahr für unsere Geschicke und unseren Ruf –, nach Beginn der Ruhezeit Geschichten zu erzählen. In dem Bemühen, nicht entdeckt zu werden, versammelten wir uns in der hintersten Ecke meines Zimmers beim Licht einer einzigen Kerze und sprachen mit gedämpfter Stimme. Hannah besiegte ihre Furcht und gesellte sich zu uns. Manchmal erfand ich Geschichten und erzählte sie; manchmal tauschten wir Geheimnisse aus, teilten einander unsere liebsten Erinnerungen mit oder sprachen über unsere Hoffnungen und Träume für die Zukunft.
Ich widmete mich meinen Lernaufgaben in der Roe Head School mit solchem Eifer, dass ich den Lehrplan in nur achtzehn Monaten schaffte. Es gab nur ein Fach, in dem ich mich, obwohl ich es liebte, wirklich nicht hervortun konnte: Musik. Ich hatte so kurze Finger, dass ich nicht viele Tasten des Klaviers umspannen konnte, und ich war so kurzsichtig, dass ich große Schwierigkeiten hatte, die Noten zu lesen; deswegen wurde ich von diesem Fach freigestellt. In allen anderen jedoch war ich bald an der Spitze der Klasse und wetteiferte mit Mary und Ellen um die Preise. Als mein Aufenthalt in der Schule spät im Mai 1832 zu Ende ging, hatte ich in jedem Trimester die höchste Auszeichnung errungen – die Silbermedaille für hervorragende Leistungen. Ich verließ Roe Head voller Stolz auf meine Errungenschaften, erfüllt von einem neuen Glauben an meine schöpferischen Fähigkeiten und an die Freundschaft mit drei Menschen, die mich ein Leben lang begleiten würden: Mary Taylor, Margaret Wooler und Ellen Nussey.
Als viele Jahre später an einem Nachmittag im Juli die Postkutsche aus Leeds in Sheffield einfuhr, erblickte ich Ellen Nussey, die am Straßenrand auf mich wartete. Ich sah ihr geliebtesGesicht und ihre vertraute Gestalt, und eine Welle der Zuneigung überkam mich. Obwohl Ellen seit unserer Schulzeit gewachsen und ihre Figur voller geworden war, war sie doch immer noch so blass und hübsch wie damals an dem Tag, als wir uns kennenlernten. Ich stieg aus der Kutsche, sie umarmte mich, und ihre klugen braunen Augen schauten mich mit der gleichen Zuneigung an wie damals.
»Meine liebste Charlotte!«
»Nell! Wie gut, dich zu sehen!«
»Ich habe den ganzen Morgen gebetet, dass dich nichts daran hindern würde, herzukommen. Wie war deine Reise?«
»Ereignislos. Obwohl die vorüberziehende Landschaft so herrlich war, verspürte ich eine solche Sehnsucht, aus dem Zug und dann aus der Kutsche zu springen und endlich zu Fuß über die sanft gewellten grünen Wiesen zu laufen.«
»Ich bin erleichtert, dass du dich zurückhalten konntest. Derbyshire ist ein herrliches Land, nicht?« Ellen trug ein sehr schönes Kleid aus gelber Seide, das züchtig nach der letzten Mode geschnitten war; ein dazu passendes Band zierte ihre Haube, unter der ihr weiches braunes Haar ordentlich frisiert hervorschaute.
»Du hast mir so gefehlt, Nell, und ich habe mich so nach etwas gutem Klatsch und Tratsch gesehnt«, rief ich, während wir in die Kutsche stiegen, die Ellen gemietet hatte, und ich sie bei der Hand nahm.
»Ich auch. Was gibt es Neues in Haworth? Wie geht es Anne?«
»Gut, ich glaube, sie ist froh, wieder zu Hause zu sein.«
»Was hältst du von eurem neuen Hilfspfarrer?«
»Oh! Wir wollen uns doch nicht den Tag verderben, indem wir über Mr. Nicholls reden!«
»Warum? Magst du ihn nicht?«
»Nein. Und ich werde ihn auch nie mögen. Ich wünschte, Papa hätte ihn nie eingestellt.«
»Was hat Mr. Nicholls denn verbrochen, dass er sich eine so heftige Abneigung verdient hat?«
Ich wusste, wenn ich Ellen von der wenig schmeichelhaften Bemerkung erzählen würde, die Mr. Nicholls über mich gemacht hatte, dann würde die gleiche Ermahnung über innere und äußere Werte folgen, die ich schon von meinen Schwestern zu hören bekommen hatte. Da mir nicht nach einer solchen Gardinenpredigt zumute war,
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