Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Turms. Schlimmer noch, er sah, dass unmittelbarvor ihr die steinerne Brüstung – von den rauen Meereswinden beschädigt – zerbrochen und zerbröckelt war.«
Ein weiterer Chor entsetzter Schreie von meinen Zuhörerinnen begrüßte diese Aussage.
»Emilys Fuß senkte sich«, fuhr ich mit finsterer Stimme fort. »Plötzlich bebte die Mauer; der Mörtel gab nach. ›Emily!‹, schrie William. Die Herzogstochter zögerte, wankte auf der schmalen Brüstung über dem Nichts hin und her, streckte hilfesuchend die Arme aus, um eine Stütze zu finden, aber da war keine!«
Plötzlich zerriss ein durchdringender schriller Schrei die Stille; ich lächelte, erfreut, dass meine Geschichte eine so erregende Wirkung hatte. Aber als ich in die Richtung schaute, aus der der Schrei gekommen war, verging mir das Lächeln, denn meine Zuhörerinnen starrten alle auf Hannah, die japsend und heftig zitternd auf dem Bett lag, mit den Augen rollte und sich mit den Händen ans Herz griff.
»Sie hat einen Anfall!«, schrie Mary.
»Ruft Miss Wooler«, sagte ich in höchster Not.
Sofort wurde Miss Wooler herbeigerufen; man holte einen Arzt; er stellte fest, dass Hannah an heftigem Herzrasen litt, und verschrieb ihr ein Beruhigungsmittel. Unsere ganze Gesellschaft bekam eine ernste Strafpredigt zu hören, weil wir nach der Schlafenszeit noch geredet hatten, und dann wurden wir ohne viel Federlesens zu Bett geschickt.
Es tat mir so leid, dass ich mit meiner Geschichte Hannahs Anfall ausgelöst hatte, dass ich in jener Nacht kaum schlief. Ich stellte mir vor, welche schrecklichen Folgen sich hätten ergeben können, wäre ihr Anfall tödlich verlaufen, und ich erwartete, beim Frühstück viele quälende Vorwürfe von Seiten meiner Klassenkameradinnen und Lehrerinnen zu hören. Als ichjedoch am nächsten Morgen müde meinen Platz am Tisch einnahm (Hannah musste noch das Bett hüten, und die Lehrerinnen waren noch nicht zu uns gestoßen), schlug mir zu meiner Überraschung genau die entgegengesetzte Reaktion entgegen.
»Das war wirklich toll gestern Abend«, sagte Mary lächelnd, als sie sich neben mich setzte.
»Ich habe noch nie eine so spannende Geschichte gehört!«, rief Susan und strahlte mich an. »Ich habe mein Heimweh völlig vergessen.«
»Ich habe gedacht, ich würde vor Angst sterben, nur vom Zuhören!«, meinte Martha Taylor begeistert.
»Hannah wäre beinahe vor Angst gestorben«, hob Amelia bitter hervor.
»Das war doch nicht Charlottes Schuld!«, sagte Ellen.
»Das nächste Mal«, erwiderte Leah und lächelte mich an (es war das erste Lächeln in meine Richtung, und es war ein sehr beifälliges und anerkennendes Lächeln), »treffen wir uns in Charlottes Zimmer, und Hannah kommt einfach nicht mit.«
»Es wird kein nächstes Mal geben«, erwiderte ich. »Miss Wooler war sehr verärgert. Wir wollen doch keine Strafe für Reden während der Ruhezeit auf uns ziehen.«
»Dann musst du eben früher erzählen«, sagte Martha.
»Oder wir müssen aufpassen, dass uns niemand erwischt«, fügte Mary hinzu – und viel Lachen und ein lebhafter Chor der Zustimmung belohnte diese Aussage.
Susan schaute vorsichtig zur Tür. Noch war von den Lehrerinnen nichts zu sehen. Mit Verschwörermiene sagte sie: »Erzähle uns, wie die Geschichte ausgeht.«
»Charlotte«, keuchte Ellen und schaute sehr besorgt. »Das wirst du doch nicht etwa wagen?«
»Gegen Reden beim Frühstück hatte Miss Wooler bisher nichts einzuwenden«, beharrte Martha.
»Ja! Ja!«, rief Leah. »Wie geht die Geschichte aus?«
Eifrige Fragen folgten. »Ist Emily heruntergefallen?« – »Hat William sie gerettet?« – »Hat sie ihn geheiratet?« Ich konnte mich eines Lächelns nicht erwehren und glaubte, ich könnte es wagen, sie zu beantworten.
»Es geschah Folgendes: Als William Emily oben auf dem Turm sah, rief er ihren Namen 5 . Obwohl der Abstand viel zu groß war, als dass seine Stimme sie hätte erreichen können, besonders über den heulenden Sturm hinweg, vernahm Emily sie doch deutlich und wachte mit einem Ruck auf. Als sie sah, wo sie sich befand, bekam sie wieder festen Halt unter den Füßen, stieg sicher von der Mauer herunter und floh zu William, der herbeigeeilt war. Sie wurden am nächsten Tag miteinander vermählt und lebten ein langes, glückliches Leben zusammen, und sie hatten fünf Kinder, die alle vollkommen, wunderschön und außerordentlich klug waren.«
Susan seufzte glücklich. »Das ist ein perfektes Ende für diese
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