Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
fragte das Mädchen.
Sie würde sich wohl nicht abschütteln lassen. »Ich habe Heimweh«, antwortete ich widerwillig.
»Oh! Nun, ich bin gerade erst angekommen. Nächste Woche bist du an der Reihe und musst mich trösten, denn dann habe ich gewiss auch Heimweh.«
Die Freundlichkeit und das Mitgefühl in ihrer Stimme verfehlten ihre Wirkung nicht; ich drehte mich um und sah sie zum ersten Mal richtig an. Sie war sehr hübsch, hatte einen blassen Teint, kluge braune Augen und dunkelbraunes Haar, das ihr in weichen Locken bis zum Kinn fiel. Als sie sich auf den mit Kissen gepolsterten Fenstersitz niederließ und mich mit einer Handbewegung aufforderte, mich zu ihr zu setzen, sagte sie: »Ich heiße Ellen Nussey.«
Ich nannte meinen Namen und erfuhr sogleich, dass Ellendas jüngste von zwölf Kindern war, dass sie beinahe genau ein Jahr jünger war als ich und dass sie nur einige Meilen von hier entfernt wohnte. »Letztes Jahr bin ich auf die Moravian Ladies’ Academy gegangen, nur eine Meile von zu Hause entfernt, aber diese Schule hat sich verändert, seit Reverend Grimes fortgegangen ist, also hat mich Mama hierhergeschickt.«
»Du hast eine Mutter?«, fragte ich voller Neid.
»Natürlich. Du nicht?« Als ich den Kopf schüttelte, nahm Ellen meine Hände in die ihren und sagte leise: »Es tut mir leid. Ich kann mir gar nicht vorstellen, keine Mutter zu haben, aber ich weiß, wie es ist, ein Elternteil zu verlieren. Mein Papa ist vor fünf Jahren gestorben, und ich vermisse ihn sehr.« Wir lächelten einander stumm zu; in Ellens Blick spiegelte sich ein tiefes und echtes Mitgefühl wider. Ich wusste es damals nicht, aber in diesem Augenblick nahm eine meiner größten und beständigsten Freundschaften ihren Anfang.
Zuerst war ich nicht sicher, ob ich Ellen mögen würde, denn wir waren in vielerlei Hinsicht sehr verschieden. Ellen war eine strenge Calvinistin, befolgte treu jene Glaubenslehren, die ich in der Schule für Pfarrerstöchter hassen gelernt hatte, und fügte sich bedingungslos allen Verhaltensregeln. Ich hingegen stellte fest, dass ich stets alles in Frage stellte und große Mühe hatte, mich innerhalb der Grenzen zu bewegen, die anscheinend von der Tochter eines Pfarrers erwartet wurden. Außerdem war Ellen zwar intelligent und gewissenhaft, aber keine Intellektuelle; sie las, gab aber zu, dass sie die tiefere Bedeutung in den Werken entweder nicht begriff oder nicht suchte, und das war doch für mich stets so wichtig. Sie war von Natur aus ruhig, ich hingegen leidenschaftlich und romantisch veranlagt. Bei mehreren Gelegenheiten sah ich mich gezwungen, ihr ein Buch wegzunehmen, wenn sie, ohne jeglichenSinn für Dramatik, mit zögernder Stimme versuchte, Abschnitte aus Shakespeare oder Wordsworth laut vorzulesen.
Ellen war jedoch eine gute, wahrhaftige und treue Freundin und eine teilnahmsvolle Zuhörerin. Schon bald war sie eine willkommene Gefährtin in meinem Zimmer, diente als Puffer zwischen mir und dem launischen Temperament und dem affektierten Gehabe Amelias. Die Zuneigung, zuerst nur ein zarter Keimling, wuchs schon bald zu einem kleinen Pflänzchen und dann zu einem starken Baum heran. Seit ich mir das Bett mit Ellen – meiner liebsten »Nell«, wie ich sie schon bald nannte – teilte, konnte ich jede Nacht ruhig schlafen.
Einige Wochen später begann eine weitere Freundschaft, mit der ich nicht gerechnet hatte. Es war in der Abenddämmerung; während meine Schulkameradinnen am Kamin des Schulzimmers fröhlich schwatzten, kniete ich mit einem Buch nah beim Fenster und nutzte die letzten Strahlen der Sonne, um noch ein wenig zu lernen.
»Ich habe mir, als wir uns kennenlernten, gedacht, dass du vielleicht nicht gut siehst«, sagte Mary Taylor und ließ sich auf dem Boden neben mir nieder, »aber da habe ich mich geirrt. Du kannst nicht nur gut sehen, Charlotte Brontë, du kannst anscheinend sogar im Dunklen sehen.«
Mary war mir seit Ellens Ankunft aus dem Weg gegangen; vielleicht, überlegte ich, bereute sie, dass sie mich mit so schroffen Worten als hässlich bezeichnet hatte. Als ich mich ihr zuwandte, sah ich, dass sie mich mit einem Augenzwinkern anblickte. »Es ist noch hell genug zum Lesen – aber nur gerade eben«, gab ich zu. Wir lachten beide.
»Wir haben den ganzen Tag lang gelernt, und wir lernen nach dem Abendessen weiter. Kannst du nicht eine kleine Pause einlegen wie wir anderen auch?«
»Lieber nicht. Jeder Tag, den ich hier verbringe, kostet meine Familie
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