Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Klugheit und Schönheit hatte die Aufmerksamkeit eines hübschen jungen Herrn aus einem Nachbarkönigreich erregt, des Marquis von Belvedere, dessen Vorname William war. Sie lernten einander kennen, sie verliebten sich, und ein Tag für die Hochzeit wurde festgesetzt. In der Nacht vor der Hochzeit schlief Emily voller seliger Vorfreude ein und träumte von den Ereignissen des kommenden Tages und von einem Leben an der Seite ihres geliebten William. Alle anderen im Schloss und alle Personen der Hochzeitsgesellschaft lagen ebenfalls in tiefem Schlaf warm zugedeckt in ihren Betten. Es schien, als könnte nichts Emilys Ruhe und Sicherheit oder die kommende Vermählung des glücklichen Paars stören. Aber das stimmte nicht. Denn die Wahrheit – die schreckliche Wahrheit – war, dass Emily eine Somnambule war.«
»Eine was?«, fragte Leah.
»Eine Somnambule«, wiederholte ich, und Mary fügte mit leicht schriller Stimme hinzu: »Eine Schlafwandlerin!«
»O nein!«, rief Susan, von der Spannung gepackt.
Ich war nun vollends mit meiner Geschichte warm geworden und stellte fest, dass mir das Erzählen ungeheuren Spaß machte. »Emilys Vater, der um diese ihre gefährliche Neigung wusste, hatte bereits vor vielen Jahren eine Kinderfrau vor ihrem Zimmer postiert, um sicherzugehen, dass sie niemals bei Nacht hinauswandern könnte. In der heutigen Nacht jedoch, als Emily sich barfuß von ihrem Bett erhob und im Tiefschlaf aus ihrer Kammer trat, war die Kinderfrau – die bei der Abendgesellschaft viel zu viel vom guten Wein genossen hatte – auf ihrem Stuhl tief und fest eingeschlafen. Emily schlüpfte an ihr vorbei auf den langen Flur und stieg dann die Treppe zum höchsten Turm des Schlosses hinauf, der am Rande der Klippe über dem Meer aufragte. Sie erreichte die Tür, die zum Dach des Turmes führte, und öffnete sie.
»Zum Dach des Turmes!«, rief Hannah voller Angst, und das Blut war vollends aus ihrem ohnehin blassen Antlitz gewichen.
»Als Emily heraustrat«, sagte ich, »schlug ihr ein starker Meereswind entgegen; aber selbst das weckte sie nicht auf. Sie glaubte, über einen Pfad auf ihrer Lieblingswiese zu wandeln, und lächelte, als der Wind ihr ins Gesicht wehte, als wäre er nur eine erfrischende Frühlingsbrise. Emily ging zu der niedrigen, mit Zinnen versehenen Mauer hinüber, die das Dach des Turms umgab, und legte ihr Hände darauf. Der Stein fühlte sich unter ihren Fingerspitzen ganz rau an, kaum anders als die Felsen, über die sie auf ihrer Lieblingswiese so gern und so leichtfüßig kletterte. Aber Emily stand nicht auf einer Wiese; sie stand oben auf einer Mauerzinne, die hoch in den Wolken zu schweben schien und unter der in der Tiefe das Meer rauschte. Jenseits der Mauer war das Nichts, nur die sternenbesäte Nacht und ein steiler Abgrund von vielen hundert Fuß.«
Ich legte eine Pause ein. Meine Zuhörerinnen, bemerkte ich zu meinem Entzücken, saßen alle mit weit aufgerissenen Augen in atemloser Spannung nach vorn geneigt da und harrten meiner nächsten Worte.
»Was hat sie dann gemacht?«, fragte Amelia eifrig.
»Wie in Trance«, fuhr ich fort, »kletterte Emily auf die schmale Brüstung der Steinmauer hinauf.«
Die versammelten Mädchen hielten vor Entsetzen den Atem an.
»Emily stand einen Augenblick lang reglos auf der Zinne, und der Wind peitschte ihr dünnes Nachthemd und ihr langes goldenes Haar. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihren geliebten William, der nur wenige Schritte entfernt mit ausgestreckten Armen auf sie wartete: ›William!‹, flüsterte sie leise. ›Ich komme zu dir!‹«
Ich erhob mich und spielte die Szene. »Dann machte Emily vorsichtig einen Schritt nach dem anderen, und jedes Mal landete ihr Fuß sicher auf den Zinnen der Mauer, und sie spürte unbewusst, dass eine falsche Bewegung, ein leichtes Schwanken ihren gewissen Tod bedeutet hätte.«
»Oh!«, rief Hannah voller Schrecken und schlug die Hand vor den Mund.
»In genau dem Augenblick, als Emily diese gefährliche Wanderung unternahm, wachte William, der in einer Kammer am entgegengesetzten Ende des Schlosses schlief, mit einem plötzlichen Ruck auf, in der Gewissheit, Emily hätte ihn gerufen. Woher war ihre Stimme gekommen? Einer Eingebung folgend, die er sich nicht erklären konnte, trat William ans Fenster. Der Anblick, der ihn dort erwartete, ließ ihn vor Schreck erstarren. Emily, wie ein Gespenst in fließende weiße Gewänder gekleidet, schritt langsam über die Mauerzinnen des höchsten
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