Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
sagen, Nell. Es ist kein Geheimnis. Branwell ist ein charmanter Bursche, wenn er nüchtern ist, aber er ist unzuverlässig und sicherlich kein Brotverdiener. Wie er es geschafft hat, seine Stelle in Thorp Green so lange zu halten, ist mir ein Rätsel.« Ich seufzte. »Papa, Gott segne ihn, wird auch nicht ewig leben. Wenn ich an die Zukunft denke, kann ich mich wohl nur auf mich selbst verlassen. Schon vor Jahren hat Mary Taylor einmal gesagt, jede Frau sollte und müsste ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können. Und sie hat damit recht gehabt.«
Wir schauten beide beinahe mit Ehrfurcht auf Mary Taylor. Sie war noch genauso quicklebendig und unabhängig, wie sie es in unseren Schultagen gewesen war. Sie hatte sich gleichzeitig mit mir in Belgien zum Studium aufgehalten, hatte allerdings eine andere Schule besucht; und sie war sehr viel auf dem Kontinent herumgereist. Als ihr klar wurde, dass sie wohl nicht heiraten würde, entschloss sie sich, zu ihrem Bruder Waring nach Neuseeland zu reisen und ihm in seinem Gemischtwarenladen zu helfen. Sie war erst vor wenigen Monaten in See gestochen.
»Hast du inzwischen etwas von Mary gehört?«, erkundigte sich Ellen.
»Nicht seit ihrem letzten Brief. Stell dir vor, von vier Grad nördlich des Äquators zu schreiben und so viele Monate anBord eines Schiffs zu leben, in der Hitze, bei all den Krankheiten, Entbehrungen und Gefahren, die das mit sich bringt! Aber Mary schien in ausgezeichneter Laune zu sein.«
»Neuseeland! Kannst du dir das vorstellen? In ein neues Land aufzubrechen …«
»Auf die andere Seite der Erdkugel! Was für ein Abenteuer! Etwas ganz Neues und Unerhörtes zu versuchen – wäre das nicht ungeheuer spannend?«
Ellen schüttelte den Kopf. »Nein. Ich finde zwar, dass Mary sehr mutig ist, aber England für immer zu verlassen, freiwillig mein ganzes Leben unter Fremden zu verbringen, das wollte ich nie.«
»Vielleicht hast du recht«, erwiderte ich ein wenig ernüchtert. »Aber wie sehr sehne ich mich nach der
Möglichkeit
einer Veränderung, Nell! Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, und ich habe bisher noch nichts mit meinem Leben angefangen. Ich muss endlich eine Beschäftigung haben. Ich möchte etwas Besseres aus mir machen als das, was ich jetzt bin. Es muss doch für eine anständige Engländerin einen Weg geben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ohne dass sie dazu ihr Zuhause oder gar ihr Heimatland verlässt. Den will ich eines Tages finden – oder beim Versuch untergehen.«
Während meines Aufenthalts in Hathersage füllte Ellen – die immer schon eine äußerst gesellige Natur war – unsere Tage mit den unterschiedlichsten und aufregendsten Abenteuern und unzähligen Besuchen. Unter anderem waren wir bei allen wichtigen Familien der Umgegend zum Tee zu Gast. Einer dieser Besuche hinterließ einen tiefen und dauerhaften Eindruck bei mir. Wir waren nach North Lees Hall eingeladen. Dieses uralte Herrenhaus aus dem fünfzehnten Jahrhundert lag in Outseats und wurde von einer Familie Eyre bewohnt.
North Lees Hall war ein großes, dreistöckiges graues Steingebäude mit Türmchen und Zinnen, die ihm ein höchst malerisches Aussehen verliehen. In der Ferne waren stille, einsame Hügel auszumachen, und so wirkte das Anwesen so abgeschieden, dass man kaum vermutete, dass das Dorf Hathersage so nah war. Das Haus stand in einem weitläufigen Park. Vor der Vorderfront breitete sich ein grüner Rasen aus, und dahinter nisteten Krähen, die laut krächzend am Himmel ihre Runden zogen, als wir uns näherten.
»Ist das nicht ein herrliches altes Haus?«, rief Ellen aus.
»Es erinnert mich an Rydings«, antwortete ich.
Rydings war in der Kindheit Ellens Zuhause gewesen, ein großes, altes Haus aus der Zeit König Georges, das ihrem Onkel gehörte und ähnliche Türmchen und Zinnen hatte. Es lag ebenfalls in einem ausgedehnten, schön angelegten Park mit uralten Bäumen, darunter einigen Kastanien und Rotdornbäumen. Ich hatte damals während meiner vielen Besuche bei Ellen Haus und Park stets sehr bewundert.
Als wir nun vor North Lees Hall aus der Kutsche stiegen, beeindruckte mich die großartige, düstere Fassade, die mir auf ein Geheimnis hinzudeuten schien, das hinter den Mauern verborgen lag. Das Innere des Hauses war noch eindrucksvoller als sein altersgraues Äußeres. Von dem Augenblick an, als man uns dort willkommen hieß, verschlug es mir vor Staunen den Atem. Ich bewunderte die schimmernde Eichentäfelung, die üppigen
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