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Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Titel: Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Syrie James
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lebhaften Traum gehabt hatte, der mir Übles zu verkünden schien.
    Ich glaube schon lange an Träume, Zeichen und Vorahnungen. Als ich jünger war, erzählte uns Tabby oft, dass ein Traum von kleinen Kindern ein sicheres Zeichen für Unheil ist, das entweder einem selbst oder der Familie droht. Zum Beweis hatte sie mehrere persönliche Erlebnisse angeführt, die sie mit einer so ernsthaften Feierlichkeit vortrug, dass ich sie niemals vergessen habe. Im Laufe der Jahre fiel mir auf, dass ich mich wesentlich öfter an meine Träume erinnerte als sonst jemand in der Familie, Emily vielleicht ausgenommen. Im Alter von acht Jahren, am Vorabend meiner Abreise zur Schule für Pfarrerstöchter, hatte ich ein furchtbares Traumgesicht gehabt, in dem ich am Bett eines kranken kleinen Mädchens stand. Als ich Papa davon erzählte, strich er mir nur übers Haar undmeinte, da ich ja selbst ein kleines Kind sei, sei es nur natürlich, dass ich von Kindern träumte. Ich sollte mir über derlei abergläubischen Unsinn nicht das Hirn zermartern. Ehe ich zum zweiten Mal nach Belgien in See stach, hatte ich erneut von einem kleinen Kind geträumt. Ich ignorierte diese Warnung. Später wünschte ich mir von Herzen, ich hätte sie beherzigt.
    Nun hatte ich erneut etwas geträumt, das mich mit einer schreckliche Vorahnung erfüllte. Liebes Tagebuch: Es war der 17. Juli 1845, ein Donnerstag. Ich erwähne das Datum, weil es sich als bedeutungsvoll erweisen sollte. Ellen und ich waren an jenem Abend früh zu Bett gegangen. Wir hatten uns angewöhnt, während unserer vielen gegenseitigen Besuche wie in alten Zeiten zusammen im gleichen Bett zu schlafen, obwohl die Räumlichkeiten dies nicht erforderlich machten. Wir genossen die gemeinsame Zeit jetzt noch genauso wie damals als Schulmädchen; gewöhnlich redeten wir eine Weile und sanken dann in friedlichen Schlummer.
    In jener Nacht war es anders. Ich vermochte noch einige Zeit, nachdem wir zu Bett gegangen waren, nicht einzuschlafen. Da es ein Sommerabend war, wurde es erst spät dunkel, und dann erhob sich ein Wind mit einem leisen, dumpfen Stöhnen, das gespenstischer anmutete als jeder Sturm. Die Schatten der vom Wind hin- und hergepeitschten und vom Mondlicht erhellten Äste der Bäume vor dem Fenster huschten über die Wände. Dies und das jammervolle Heulen des Windes erschienen mir Ausdruck einer übersinnlichen, bösen Macht zu sein. Ich fühlte mich plötzlich von einem unerklärlichen Gefühl überwältigt, dass großes Unheil drohte.
    Als ich endlich einschlief, hatte ich einen Traum. Ich lief in einer dunklen und stürmischen Nacht voller Angst auf der gewundenen Straße nach Haworth. Ich spürte, dass man mich zuHause dringend brauchte und dass ich so schnell wie möglich dorthin gelangen musste. Während ich mich den Berg hinaufplagte, trug ich einen in ein Schultertuch gehüllten Säugling an meiner Brust. Das winzige Geschöpf wand sich in meinen Armen und schrie jämmerlich. Ich flüsterte dem Säugling beruhigende, liebevolle Worte zu, summte ein Wiegenlied, versuchte ihn zu trösten, aber sein Leid war so abgrundtief, dass meine Worte nicht zu ihm vordrangen. Die Arme wurden mir schwer, und das Gewicht des Kindes machte mir jeden Schritt zur Mühsal. Dem Säugling schien jede andere Person lieber zu sein als ich, aber ich konnte ihn ja nicht einfach irgendwo liegen lassen. Ich musste alles in meinem Möglichkeiten Stehende tun, um ihn sicher und warm zu halten.
    Mit äußerster Anstrengung erreichte ich die Hügelkuppe. Zu meinem Entsetzen war das Pfarrhaus verschwunden. Statt meines Zuhauses stand dort ein fremdes Gebäude, das im Aussehen und in der Größe eher North Lees Hall glich. Doch es war nicht North Lees Hall, sondern eine trostlose Ruine. Von der stattlichen Fassade war nur noch die zerbrechlich wirkende, schalengleichen Außenwand geblieben; wo einmal die solide Eingangstür gewesen war, klaffte nun ein Loch. Wo befand sich meine Familie?, fragte ich mich voller Schrecken. Was war geschehen?
    Der Wind heulte weiter. Doch plötzlich wurde ich gewahr, dass es nicht der Wind, sondern Stimmen waren: die meines Vaters, Annes, Emilys und Branwells in einem wirren Missklang der Verzweiflung. Und diese Stimmen drangen aus dem Inneren der Ruine an mein Ohr.
    »Wo seid ihr?«, rief ich, bebend vor Angst. »Ich komme zu euch! Ich komme!«
    Das Kind noch immer in den Armen haltend, eilte ich hinein. Die Innenwände standen noch, aber die Eingangshallewar übersät von

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