Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Stellung in diesem Haus empfehlen dürfen.«
Emily richtete sich kerzengerade auf und starrte Anne an. »Was für Einblicke, Anne? Was verschweigst du uns?«
Anne wandte den Blick ab, und Röte überzog ihre Wangen. »Ich spreche nur sehr ungern darüber, aber da ihr beide ohnehin schon beinahe alles wisst …« Sie holte tief Luft und fuhr fort. »Ich habe Mrs. Robinson ganz ungeniert mit anderen Herren flirten sehen – mit Gästen und Besuchern des Hauses. Ich vermute, dass sie mit vielen von ihnen
überaus vertraut
war – und nicht nur meine Herrin hat sich so verhalten. In den Jahren seit Branwells Ankunft habe ich unzählige Beispiele niedrigster Unzucht zwischen Erwachsenen beobachtet, die zwar verheiratet waren, aber nicht miteinander. Und immer hielten sich sogar ihre Ehegatten im Haus oder auf dem Anwesen auf, manchmal sogar im Nebenzimmer. Es hat mich sehr bestürzt und angewidert, dass ich solch unmoralisches Verhalten mit ansehen musste, aber nichts dagegen unternehmen konnte. Denn wie hätte ich meinen Verdacht vorbringen sollen? Man hätte mich sicherlich auf der Stelle entlassen. Ich erröte vor Scham, wenn ich überlege, dass ich durch mein Schweigen zur Komplizin dieser Vergehen geworden bin. Noch verlegener werde ich, wenn ich mich daran erinnere, dass bei einer Gelegenheit im vergangenen Jahr einer der männlichen Gäste,nachdem er zu viel Alkohol getrunken hatte, auch versuchte, mit mir übermäßig vertraulich zu werden.«
»Oh, Anne!«, rief Emily. »Was hast du da gemacht?«
»Ich habe ihn abgewehrt. Er hat nie wieder darüber gesprochen. Ich glaube, er war zu betrunken, um sich daran zu erinnern.«
»Anne, es tut mir so leid.« Tränen brannten mir in den Augen, als ich ihre Hand ergriff. Plötzlich wurde mir klar, dass meine eigenen Erfahrungen als Gouvernante, die mir einmal so bedrückend erschienen waren, eigentlich ganz harmlos und unbedeutend waren, wenn man sie mit Annes Erlebnissen verglich. »Und die ganze Zeit über hatten wir keine Vorstellung davon, wie sehr du gelitten hast. Wenn du es mir nur gesagt hättest, ich hätte darauf bestanden, dass du Thorp Green schon vor Jahren verlassen hättest.«
»Genau darum habe ich es nicht erwähnt. Es hätte euch nur unnötig Schmerz bereitet. Und wenn ich gegangen wäre, wie konnte ich denn sicher sein, dass es mir anderswo nicht genauso ergehen würde?« Anne seufzte. »Und jetzt beschämt es mich zutiefst, dass, während all das geschah, Mrs. Robinson eine intime Beziehung zu
Branwell
hatte – und ich davon nicht das Geringste ahnte! Es muss ihrer Eitelkeit sehr geschmeichelt haben, dass sie mit ihren dreiundvierzig Jahren einen gut aussehenden Mann verführen konnte, der siebzehn Jahre jünger war – besonders da sie ja auch drei wunderschöne Töchter im Haus hat.«
»Wie konnten sie nur so lange unentdeckt bleiben?«, fragte ich.
»Anscheinend waren Mrs. Robinsons Zofe und der Arzt der Familie mit ihr im Bunde«, erwiderte Emily.
»Ich muss zugeben«, fügte Anne hinzu, »dass Mrs. Robinson eine sehr geschickte Betrügerin war. Ihrem Mann gegenüberverhielt sie sich nach außen hin stets völlig wohlanständig. Hinter seinem Rücken beklagte sie sich immerzu, er wäre alt und krank und könnte ihre … ihre Bedürfnisse nicht angemessen befriedigen.«
»Stimmte das, was meinst du?«, erkundigte ich mich.
»Ich weiß es nicht. Er kränkelt eigentlich erst seit kurzem ein wenig, und so alt ist er auch wieder nicht. Mr. und Mrs. Robinsons sind gleich alt. Er ist ein strenger und unbeugsamer Mann, aber bei all seinen Fehlern halte ich ihn doch für einen weitaus besseren und ehrenwerteren Menschen als seine Frau.«
»Und wie hat er herausgefunden, dass seine Frau ihn betrügt?«
»Das haben wir erst gestern erfahren«, erwiderte Emily, »als Branwell ein Schreiben vom Arzt der Robinsons erhielt, mit dem er sich angefreundet hatte. Als wäre Branwell bisher nicht schon verderbt genug gewesen, hat er noch eine ungeheure Dummheit begangen. Er konnte es nicht aushalten, auch nur die wenigen Ferienwochen von dieser Frau getrennt zu sein, und ist der Familie insgeheim nach Scarborough hinterhergereist.«
»Nein!«
»Der Gärtner der Robinsons begleitet sie auf Reisen immer, um dem Kutscher mit den Pferden und dem Gepäck zur Hand zu gehen«, fuhr Emily fort. »Er hat Branwell und Mrs. Robinson zusammen im Bootshaus erwischt, unterhalb ihrer Ferienunterkunft an der Klippe. Anscheinend fühlte sich dieser Gärtner seinem Herren
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