Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
tatsächlich sehr unvernünftig«, gab Anne zu, »und er kann manchmal ziemlich barsch und unsensibel sein – aber ich mag ihn trotzdem und bin mir sicher, dass er dich mag, Charlotte.«
»Warum wiederholst du das ständig? Er hat damals beim Abendessen nur zu deutlich zum Ausdruck gebracht, was er von mir hält.«
»Das war vor Monaten, Charlotte«, sagte Anne leise. »Du musst es endlich über dich bringen, ihm zu vergeben. Hast du nicht seine Blicke bemerkt, wenn er immer wieder einmal Branwell nach Hause gebracht hat? Und wie er dich schon während des gesamten Abendessens anstarrt?«
Ich schaute quer durch den Raum, und zu meinem Entsetzen blickte Mr. Nicholls tatsächlich in meine Richtung. Unerklärlicherweiseerrötete ich und wandte die Augen ab. »Er schaut nicht mich an, sondern uns alle.«
Nachdem man die Kuchen und Pasteten aufgetragen hatte und wir Unmengen von Tee und Kaffee getrunken hatten, verkündete Papa, wir würden uns nun alle zum Glockenläuten auf dem Kirchhof zusammenfinden. Aufgeregt schwatzend legte die Gemeinde Hüte, Mäntel, Umhänge und Handschuhe an, begab sich aus dem Gasthaus und ging um die nahegelegene Kirche herum. In der klirrenden Kälte des späten Nachmittags standen wir nun alle da, hatten unsere Augen auf den Kirchturm gerichtet und warteten voller Vorfreude auf das Heranrücken der vollen Stunde.
Dann kam es. Plötzlich jubelten die sechs neuen Glocken weit oben. Die Zuschauer wurden still, als die Glocken viermal in schneller Folge anschlugen; und dann begannen die Glockenläuter zur Feier des Tages, uns das Programm vorzuspielen, das sie die ganze Woche über geprobt hatten. Es war eine begeisternde musikalische Darbietung, die eine ganze Viertelstunde dauerte. In einer Vielzahl von Variationen erfüllten die vollen Töne die Abendluft mit ihrem prächtigen Klang. Im Anschluss daran brach die versammelte Gemeinde in Jubel und Beifall aus.
»Sind sie nicht großartig!«, rief ich aus.
»Sie klingen so viel voller und schöner als die alten Glocken«, sagte Emily mit einem Lächeln.
»Was für ein Trost und was für eine Freude wird es sein, regelmäßig zu hören, wie sie die Stunden einläuten«, meinte Anne.
Die Leute machten sich nach und nach auf den Heimweg Als sich die Menge zerstreut hatte, bemerkte ich Mr. Nicholls, der in einiger Entfernung auf der anderen Seite des Kirchhofes stand. Unsere Augen trafen sich, und er zog den Hutzum Gruß. Ich nickte zur Antwort. Er zögerte, als dächte er darüber nach, ob er zu uns herüberkommen sollte. Dann überlegte er es sich augenscheinlich doch anders und machte sich ebenfalls auf den Heimweg.
Meine Schwestern und ich waren schon beinahe bei der Tür des Pfarrhauses angelangt, als Emily plötzlich sagte: »Was ist mit
Bell
2 ?«
»Was soll mit Bell sein?«, fragte ich zurück.
»Für unseren literarischen Familiennamen«, erklärte Emily. »Das ist Mr. Nicholls’ zweiter Vorname – ich glaube, der Mädchenname seiner Mutter. Als ich ihn eben gesehen und die Glocken dazu gehört habe, ist mir das in den Kopf gekommen. Wir könnten uns die Brüder Bell nennen.«
»Oh«, antwortete Anne, »das gefällt mir. Es ist ein schöner, schlichter Name, leicht zu behalten, auszusprechen und zu buchstabieren.«
»Ich möchte lieber keinen Namen benutzen, der etwas mit Mr. Nicholls zu tun hat«, sagte ich mit leisem Zweifel.
»Warum nicht?«, fragte Emily.
»Wenn er herausfindet, dass wir uns seines Namens bedient haben, hält er das vielleicht für eine Art persönliche Anerkennung, und das könnte ja nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein.«
»Wenn wir wirklich veröffentlichen, dann bleiben wir doch anonym«, beharrte Emily. »Mr. Nicholls wird nie etwas davon erfahren.«
Es herrschte kurz Schweigen. »Nun«, sagte ich ruhig, während wir ins Haus eintraten, »ich denke, Bell
klingt
wirklich gut.« Wir brachen alle in schallendes Gelächter aus.
Ehe wir mit unserem ersten unsicheren Schritt in Richtung Veröffentlichung weitermachen konnten, brauchten wir noch sehr viel mehr Tinte und Schreibpapier, sowohl für die Reinschrift unserer Gedichte, als auch für die zu erwartende Korrespondenz. Schreibpapier war kostbar, aber wir hatten alle drei je 300 Pfund von Tante Branwell geerbt (unserem Bruder hatte sie nichts hinterlassen, weil sie meinte, er könnte als Mann selbst für sich sorgen), und investiert. Das Einkommen aus dieser Geldanlage gab uns die nötigen finanziellen Mittel, um damit einige wenige
Weitere Kostenlose Bücher