Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Augen flogen zu Anne. Sie schien sich genauso unwohl zu fühlen. »Es ist eine private Angelegenheit, Mr. Nicholls«, sagte ich, »in derwir Stillschweigen gelobt haben. Ich weiß, Sie würden nicht wünschen, dass ich wortbrüchig werde, indem ich Ihnen auch nur die leiseste Andeutung mache.«
»Ich verstehe. Verzeihen Sie mir, Miss Brontë. Ich werde keine weiteren Fragen stellen.«
Anne und ich erledigten unseren Einkauf und verließen den Laden. Mr. Nicholls begleitete uns auf die Straße und sagte: »Haben Sie sonst noch in Keighley zu tun?« fragte er höflich.
»Wir gehen unverzüglich nach Hause zurück«, antwortete ich.
»Darf ich dann um die Ehre bitten, Sie nach Hause zu begleiten?«
Mir fiel keine elegante Methode ein, wie ich dieses Angebot hätte ablehnen können. Die Entscheidung wurde mir jedoch durch die Ereignisse abgenommen, die nun eintraten.
Anne berührte meinen Arm und sagte: »Ist das nicht Miss Malone?«
Ich folgte ihrem Blick und sah zwei junge Frauen, die Arm in Arm über die Straße auf uns zukamen. Die eine erkannte ich. Es war Sylvia Malone, die junge Frau, die wenige Abende zuvor beim Abendessen vor der Einweihung des neuen Geläuts Mr. Nicholls so begeistert gepriesen hatte. Ihre Begleiterin war eine Brünette von Anfang zwanzig mit einem freundlichen Gesicht, die Sylvia in Gestalt und Zügen ähnelte, wenn sie sie auch mit ihrer Aufmachung weit in den Schatten stellte. Während Sylvia mit einem tristen Mantel aus Merinowolle und einer schlichten Haube daherkam, trug die andere junge Dame einen gut geschnittene Wollumhang über einem wunderschönen Seidenkleid und an ihrer eleganten Haube ein farblich passendes Band.
»Miss Brontë! Miss Anne!«, rief Sylvia und eilte mit ihrerBegleiterin am Arm auf uns zu. Sittsam fügte sie noch hinzu: »Guten Tag, Mr. Nicholls.«
Als die jungen Damen vor uns stehen blieben, fuhren die fremde junge Dame und Mr. Nicholls in plötzlichem Erkennen erschreckt zusammen, erröteten und wandten ihre Blicke ab.
»Darf ich meine Cousine, Miss Bridget Malone, vorstellen, die einige Wochen aus Dublin bei uns zu Besuch weilt«, sagte Sylvia lächelnd. Sie hatte augenscheinlich weder die Verlegenheit der anderen jungen Dame bemerkt, noch (was mir offensichtlich war) die Tatsache, dass diese mit dem Herrn in unserer Gegenwart von früher bekannt war und eindeutig keine glücklichen Erinnerungen daran bewahrt hatte. »Bridget, das sind Charlotte und Anne Brontë, die Töchter unseres Pfarrers, und dies ist unser neuer Hilfspfarrer in Haworth, Mr. Nicholls.«
Wir begrüßten einander alle artig und knicksten und verneigten uns. Bridget allein blieb stumm.
»Was für eine Überraschung, Sie alle hier in Keighley zu treffen!«, rief Sylvia.
»Es ist allerdings ein außerordentlich unerwartetes Ereignis«, murmelte Mr. Nicholls und fügte unvermittelt hinzu: »Es tut mir leid, aber ich muss mich jetzt verabschieden. Ich werde in Kürze in Haworth erwartet. Auf Wiedersehen, meine Damen. Ich wünsche noch einen schönen Nachmittag.« Dann lüpfte er den Hut, machte auf dem Absatz kehrt und ging die Straße entlang.
»Der hatte es ja sehr eilig«, merkte Sylvia stirnrunzelnd an, während sie Mr. Nicholls’ verschwindender Gestalt nachschaute. »Ich hatte gehofft, Gelegenheit zu einem Gespräch mit ihm zu bekommen. Er sieht doch wirklich gut aus, nicht? Er ist so groß und so stattlich und hat so schöne Augen.«
»Seine Augen mögen ja ganz schön sein«, erklärte Bridget, und ihre volle Stimme mit dem irischen Akzent hatte dabei einen bissigen Unterton. »Aber lassen Sie sich davon nicht irreführen. Diese Mann hat ein Herz aus Stein.«
»Warum sagst du das, Bridget?«, fragte Sylvia überrascht.
»Kennen Sie Mr. Nicholls schon länger?«, erkundigte ich mich.
»Ja«, erwiderte Bridget. »Wir haben uns in Dublin kennengelernt, und zwar vor einigen Jahren. Er – oh! Das ist eine lange Geschichte.« Plötzlich verzog sich Bridgets Gesicht, und sie brach in Tränen aus.
»Bridget! Du lieber Gott!«, rief Sylvia erschüttert. »Ich wusste ja nicht, dass du ihn kennst. Du musst mir alles erzählen.« An uns gerichtet, fügte sie hinzu: »Da drüben ist das ›Devonshire Arms‹. Würden Sie sich zu einem Glas Bier oder einer Tasse Tee zu uns gesellen?«
Anne und ich wechselten einen stummen Blick. Ich konnte an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, dass sie diese Wendung der Ereignisse genauso brennend interessierte wie mich. »Ja, wir würden sehr gern den
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