Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
eröffneten. Ich wollte unbedingt meine bisherigen literarischen Versuche noch einmal daraufhin überprüfen, ob einer davon vielleicht doch etwas taugte. Noch nie zuvor hatte ich einen langen Roman vollendet. Bisher waren die längsten Prosastücke aus meiner Feder meine Geschichten aus Angria. Aber ich hatte auch eine neue Arbeit angefangen, die ich noch niemandem gezeigt hatte. Vielleicht, überlegte ich, konnte ich eine der Angria-Geschichten nehmen, genau wie Branwell es getan hatte, und sie überarbeiten und erweitern?
Der nächste Morgen dämmerte grau und kalt, aber zum Glück klar herauf. Als Anne und Emily nach dem Frühstück zu ihrem üblichen Spaziergang aufbrachen, sagte ich, ich wollte zu Hause bleiben und einen Brief schreiben. Kaum hatten die beiden das Haus verlassen, da rannte ich nach oben in mein Zimmer und schloss die unterste Schublade meines Schreibpultes auf, dieselbe Schublade, die mein Rosenholzkästchen mit den Briefen von Monsieur Héger enthielt. Hier bewahrte ich auch eine Reihe von Schachteln verschiedener Formen und Größen auf, die ihr kurzes Leben lediglich als Behältnisse für die Anlieferung verschiedenster Produkte begonnen hatten und nun als getreuliche Aufbewahrungsorte meiner bisherigen schöpferischen Arbeiten dienten.
Ich zog eine Schachtel hervor und klappte sie auf. Darin lag ein Haufen winziger, mit der Hand zusammengenähter Büchlein, manche kaum mehr als einen Zoll breit und zwei Zoll hoch, in der Größe passend zu den Bataillonen von Spielzeugsoldaten, mit denen wir als Kinder gespielt hatten. Sehnsucht nach der vergangenen Zeit überkam mich, als ich die Büchlein vorsichtig untersuchte. Papier war damals in unserem Haushalt so knapp gewesen, dass Branwell und ich die Miniaturbücher aus Resten von Zeichenpapier, Zeitungsanzeigen, Zuckertüten und dergleichen anfertigten. Um die größtmögliche Anzahl von Wörtern auf die Seiten zu bekommen, hatten wir uns eine unendlich winzige Handschrift angeeignet, die so gestaltet war, dass sie beinahe wie gedruckt wirkte. Wir waren in die Rollen erfundener Historiker, Dichter und Politiker geschlüpft – von lauter Männern, deren Leben sich an das anlehnte, was wir gelesen hatten (ich war gewöhnlich Lord Charles Wellesley) – und hatten in dieser Eigenschaft Theaterstücke, Kurzgeschichten, Zeitschriften und Zeitungen geschaffen, dazu noch äußerst abfällige Besprechungen derWerke der jeweils anderen verfasst. Während ich die Seiten durchblätterte, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass ich die winzig kleine Schrift noch lesen konnte – wenn auch nur, indem ich sie mir unmittelbar vor die Brille hielt.
Ich stellte die Schachtel zurück und schaute den Inhalt einer anderen durch. Sie enthielt unzählige Bündel größerer loser Blätter, die mit Band oder Schnur zusammengeheftet waren. Manches waren Tagebuchseiten, andere waren die Novellen meiner späten Jugend und frühen zwanziger Jahre, alle in derselben Miniaturschrift festgehalten. Als ich sie nun durchsah, lächelte ich liebevoll angesichts solcher Titel wie
Der Herzog von Zamorna, Henry Hastings, Caroline Vernon, Mina Laury, Albion und Marina, Stancliffes Hotel, Das Geheimnis, Die Rivalen, Die Verzauberung.
An einige Geschichten erinnerte ich mich noch so deutlich, als hätte ich sie erst gestern geschrieben. Andere waren mir ein völliges Rätsel. Ich las kurze Abschnitte von allen, weil ich unbedingt feststellen wollte, ob sie einen zweiten Blick verdienten. Zu meinem Entsetzen wurde mir klar, dass sie zum größten Teil recht albern, zu sehr ausgeschmückt und weitschweifig waren. Oh, mit was für reißerischen Themen hatte ich mich damals vergnügt! Wie viele Rechtschreibfehler und wie wenige Satzzeichen auf diesen Seiten waren! Warum hatte ich mich nur mit solcher Begeisterung mit dem Sensationellen, mit überstürzten heimlichen Liebesaffären und unehelichen Kindern beschäftigt? Und doch konnte ich nicht vergessen, wie viele Stunden ungetrübten Vergnügens mir das Schreiben dieser Geschichten bereitet hatte. Ich legte sie sorgsam und mit einem leisen Lächeln wieder in ihre Schachtel zurück und beschloss, dass sie dort bleiben sollten – Überreste aus meiner Kindheit und leidenschaftlicher, phantasievoller Ausdruck meines jüngeren Ich.
Ich zögerte, ehe ich eine dritte Schachtel aus der Schublade nahm, und mein Herz schlug heftig. Hier lagen die Hefte aus meinen zwei Jahren Ausbildung in Brüssel, die unzähligen Aufsätze, die ich
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