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Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Titel: Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Syrie James
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in französischer Sprache geschrieben hatte, am Rand verziert mit Monsieurs ausführlichen, einfühlsamen und lehrreichen Kommentaren. Wie oft in den letzten zwei Jahren waren mir die Tränen in die Augen getreten, während ich diese Seiten las und nicht vergessen konnte, dass die Hände meines Professors einmal eine jede von ihnen berührt hatte?
    Nein, dachte ich. Jetzt war keine Zeit für solche Grübeleien. Sie würden mir nur Schmerzen bereiten.
    Ich stellte die Schachtel wieder zurück, ohne sie zu öffnen, und nahm stattdessen die letzte zur Hand. Sie enthielt einen Stapel säuberlich mit Bleistift vollgeschriebener Seiten, meine jüngste literarische Arbeit, zwölf Kapitel eines Werkes, das ich vorläufig
Der Herr und Meister
genannt hatte. Ich hatte den Handlungsrahmen für die Geschichte noch in Brüssel skizziert, aber erst im vergangenen Herbst nach meiner Rückkehr mit dem Schreiben begonnen. Seither hatte ich immer wieder einmal an der Geschichte gearbeitet, bis Anne und Branwell nach Hause kamen und ich das Fragment wegschloss.
    In diesem Augenblick hörte ich das Bellen der Hunde und das laute Zuschlagen der Küchentür. Meine Schwestern waren von ihrem Spaziergang zurückgekehrt. Rasch verstaute ich die Seiten wieder in ihrem Versteck und eilte nach unten. Den restlichen Tag über war ich so zerstreut, dass ich einen guten Staublappen ins Feuer fallen ließ und Kaffee anstatt Tee in die Teekanne füllte. Emily beschuldigte mich, vor der Zeit an Altersschwäche zu leiden. Anne vermutete, ich bräuchte eine neue Brille. Aber ich konnte nur an meine Geschichte denken.
    Das Schreiben der Kapitel, die in Brüssel spielten – diewenigen, die ich fertiggestellt hatte –, war mir eine besonders angenehme und befriedigende Tätigkeit gewesen, die ich nur ungern zur Seite gelegt hatte. Meine Erinnerungen auf Papier zu bannen, die Menschen und Orte zu beschreiben, die ich kannte und liebte (oder hasste), das war mir selbst unter dem dünnen Schleier der Dichtung erfrischend und trostreich erschienen. Ich fühlte mich dadurch der Person näher, die ich nicht aus meinen Gedanken zu verbannen vermochte. Es hatte mir geholfen, die langen, einsamen Abende zu ertragen, wenn die anderen Mitglieder meines Haushalts sich zurückgezogen hatten und sich bei mir der Schlaf nicht einstellen wollte.
    Damals hatte ich diese Kapitel nur als eines meiner vielen Vorhaben betrachtet, die für die Schachteln bestimmt waren. Nun sah ich es in einem völlig anderen Licht. Wenn ich den Roman fertigstellen wollte, selbst wenn es nur ein einziger Band werden sollte, so würde das sehr viel Mühe machen. Aber wenn mir das tatsächlich gelänge, würde es wirklich ein interessanter Roman werden, der sich verkaufen ließ? Dieser Gedanke erfüllte mich gleichzeitig mit Erregung und Bangen. Würde ich jetzt wieder an dieser Geschichte arbeiten, so würde das Anne und Emily sicherlich nicht entgehen. Und ich würde ihren Rat und ihre Hilfe begrüßen. Aber der Schauplatz der Handlung war meine Schule in Belgien. Der Held, wie idealisiert er auch sein mochte, war Monsieur Héger nachempfunden. Sicherlich würden das meine Schwestern merken. Würden sie mich durchschauen und die Sehnsucht herauslesen, die hinter meinen Worten lag? Wenn ich die Geschichte mit ihnen teilte, würde ich ihnen nicht auch die Geheimnisse meines Herzens offenbaren, die ich mich so sorgfältig zu verbergen bemüht hatte und die ich immerzu geleugnet hatte?
    In jener Nacht, als alle anderen schliefen, stahl ich mich ins Esszimmer hinunter und las noch einmal das Manuskript, dasich bisher geschrieben hatte. Es bedurfte noch des Glättens; und doch, dachte ich mit wachsender Begeisterung, schien einiges für das Werk zu sprechen. Wichtiger noch, ich hatte die Gefühle bezüglich meines Helden nicht offen zum Ausdruck gebracht. Mit pochendem Herzen schlich ich mich schließlich leise wieder nach oben, verstaute die Seiten in meinem Schreibpult und kroch neben Anne ins Bett. Mein Geheimnis war sicher, entschied ich, während ich in die Dunkelheit starrte. Ich konnte an diesem Buch weiterarbeiten, sogar mit dem Wissen meiner Schwestern. Nachdem das entschieden war, konnte ich es kaum noch abwarten, ihnen meine Absichten kundzutun.
     
    Es regnete den ganzen nächsten Morgen in Strömen. Am frühen Nachmittag hörte das Unwetter endlich auf, und wir drei machten uns – unter höchster Gefahr für unsere Schuhe – auf den Weg, um das feuchte und einsame Moorland zu

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