Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
kein Papier mehr vorrätig hatte. Ich bin gestern nach Bradford gefahren und habe mir erlaubt, etwas Papier zu kaufen. Ich hoffe, Sie und Ihre Schwestern können es gut gebrauchen.« Er hielt mir das Paket entgegen.
Ich holte vor Überraschung tief Luft. Das war also das geheimnisvolle »Etwas«: Schreibpapier! Das Papier, das wir so dringend benötigten! Einen kurzen, verwirrten Augenblick lang verließ mich meine Entschlossenheit. Mr. Nicholls bot mir ein Geschenk an – ein Geschenk, für das er offensichtlich große Mühen auf sich genommen hatte, denn Bradford war zwölf Meilen entfernt. Vielleicht war es eine Art Friedensangebot, um mich die Bemerkung vergessen zu lassen, die er vor vielen Monaten gemacht hatte? Doch dann dachte ich: Nein, nein! Dieser Mann hat mich einmal grausam hinter meinem Rücken beleidigt, und er hat sich nicht dafür entschuldigt. Schlimmer noch, vor einigen Jahren hat er in Irland eine unschuldige junge Frau auf schnödeste und herzloseste Manier äußerst übel behandelt. Von ihm würde ich kein Friedensangebot akzeptieren!
»Es tut mir leid, aber das kann ich nicht annehmen.«
Mr. Nicholls erbleichte. In seinen Augen spiegelte sich Verwirrung wider. »Wie bitte?«
»Ich kann das Papier nicht annehmen.«
»Aber warum?«
»Ich glaube, Sie wissen warum.«
»Mr. Nicholls!«, erschallte hinter mir Annes Stimme. Meine Schwester war mir nachgeeilt und stand nun neben mir. »Haben mich meine Ohren getäuscht? Dieses Paket enthält Schreibpapier?«
»Ja«, antwortete er, inzwischen mit hochrotem Kopf.
»Wo haben Sie das bloß aufgetrieben, Sir?«
»In Bradford.«
»Wie freundlich von Ihnen, an uns zu denken, Sir. Ich entschuldige mich für meine Schwester. Sie ist zu stolz und bringt es einfach nicht über sich, von irgendjemandem Hilfe zu akzeptieren. Emily und ich fühlen uns geehrt, das Papier in ihrem Namen anzunehmen, und natürlich werden wir es Ihnen bezahlen.«
»Es ist ein Geschenk«, sagte Mr. Nicholls, der immer noch tief beschämt dreinschaute, als er Anne das Paket überreichte.
»Vielen Dank, Sir«, erwiderte Anne, »für Ihre Zuvorkommenheit und Großzügigkeit. Wir sind Ihnen sehr verbunden.«
Mr. Nicholls warf einen kurzen, unsicheren Blick auf mich. Nachdem er dort kein Entgegenkommen gesehen hatte, verneigte er sich und ging rasch von dannen.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht?«, rief Anne, als er fort war. »Ich vermute, er hat den weiten Weg nach Bradford nur um unseretwillen gemacht, und wir brauchen das Papier dringend!«
»Wenn ich es angenommen hätte, so hätte mich das ihm gegenüber verpflichtet. Und der bloße Gedanke, in Mr. Nicholls’ Schuld zu stehen, ist mir widerwärtig.«
»Oh, du bist unmöglich!« Anne ging mit schnellen Schrittenund dem Paket unter dem Arm ins Esszimmer zurück, wo sie von Emily mit großer Begeisterung empfangen wurde.
Ich weigerte mich standhaft, auch nur ein einziges Blatt von Mr. Nicholls’ Papier zu verwenden, und wartete, bis bei unserem Schreibwarenladen vor Ort eine neue Lieferung eingetroffen war, ehe ich meine eigenen Gedichte ins Reine schrieb und Briefe an mögliche Verleger verfasste.
Branwell unternahm in jenem Herbst einen weiteren Versuch, sich zu bessern, einen Versuch, der, wie sich herausstellte, ernst gemeint war und äußerst wertvolle und weitreichende Folgen haben sollte, die er kaum vorhergesehen haben konnte. An einem stürmischen Novembernachmittag saß ich gerade im Esszimmer am Kamin und nähte Bekleidung für die Bedürftigen, als plötzlich Branwell hereingestürmt kam und mir eine unerwartete Mitteilung machte.
»Du wirst dich freuen, zu hören, dass ich mich mit einem neuen Vorhaben beschäftige«, verkündete er, während er sich aufs Sofa fallen ließ.
»Ach ja? Und was für ein Vorhaben ist das?«
»Ich schreibe einen Roman.«
»Einen Roman?«, erwiderte ich zweifelnd.
»Ja, und dieser Roman wird anders und besser als alles, was ich je zuvor verfasst habe. Ich will ihn aller Welt zeigen. Ich beabsichtige, dieses Werk zu veröffentlichen.«
»Veröffentlichen?« Nun schaute ich voller Interesse von meiner Näharbeit auf.
Branwells Augen strahlten vor Begeisterung. »Ich habe einmal geglaubt, dass es für Menschen wie mich ein unerreichbares Ziel ist, ein Buch zu veröffentlichen – ein richtiges, großes Buch; dass meine einzige Hoffnung, meine Werke je gedruckt zu sehen, auf den Gedichten ruhte, die ich in Zeitungen undZeitschriften unterbringen konnte. Aber nun weiß
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