Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
ich es besser. Ich habe Nachforschungen angestellt. Es scheint, dass sich bei den gegenwärtigen Verlagen und den heutigen Lesern ein Roman am besten verkaufen lässt.«
»Tatsächlich?«
»Ja! Wenn ich ein großes wissenschaftliches Werk schriebe, das viele Jahre eifriger Arbeit erforderte und meinen Geist bis zum Äußersten anstrengte, so könnte ich mich schon glücklich preisen, wenn ich dafür zehn Pfund bekäme. Für einen Roman jedoch – drei schmale Bände, für die man kaum mehr Zeit braucht, als es dauert, eine Zigarre zu rauchen oder ein Liedchen zu summen – für einen Roman, sage ich, könnte man ohne Weiteres zweihundert Pfund geboten bekommen!«
Mein Herz begann schneller zu schlagen. »Sind denn Romane wirklich so beliebt und begehrt?«
»Ja. Möchtest du vielleicht lesen, was ich bisher geschrieben habe?«
Ich sagte, das würde ich gern tun. Branwell rannte aus dem Zimmer und kehrte sofort mit den ersten vierzig Seiten seiner Arbeit unter dem Arm zurück. Das Werk trug den Titel
And The Weary Are at Rest
1 . Ich las die Seiten sofort. Es war die Geschichte einer tugendhaften jungen Frau namens Maria Thurston, die ihr Ehemann vernachlässigt und die sich nach Liebe sehnt und in die Arme von Alexander Percy, dem Earl von Northangerland, getrieben wird.
»Es ist spannend und dramatisch«, sagte ich zu Branwell, als ich ihm am Abend sein Manuskript zurückgab. »Mir hat die alte Geschichte aus Angria, die du vor langer Zeit geschrieben hast, immer schon gefallen. Ich sehe, du hast sie so umgeschrieben,dass sie von dir und Mrs. Robinson handelt, wenn auch das Ende ein wenig anders verlaufen ist.«
Er errötete, als er die Seiten von mir entgegennahm. »Und wenn schon?«
»Das sollte ein Kompliment sein. Eine Geschichte wird nur besser, wenn ein wenig Lebenserfahrung mit hineinfließt. Hat nicht Chateaubriand gesagt, dass ›große Schriftsteller in ihren Werken stets ihre eigenen Geschichten erzählen‹, dass man ›sein eigenes Herz erst dann wahrhaftig beschreibt, wenn man es auf einen anderen überträgt‹?«
Branwell nickte. »Er hat gesagt: ›Der größte Teil des Genies besteht aus Erinnerung.‹«
»Genau. Ich habe das damals, als wir Kinder waren und unsere Geschichten schrieben, noch nicht verstanden. Du wohl auch nicht. Wir haben zu Papier gebracht, was immer unsere Phantasie uns eingab. Jetzt bin ich klüger. Ich bin nun überzeugt davon, dass es beim Schaffen eines jeden Kunstwerks – sei es ein Gedicht, ein Prosastück, ein Gemälde oder eine Skulptur – am besten ist, sich aufs wirkliche Leben zu beziehen.«
»Vielleicht hast du recht.«
»Branwell, wenn du es fertigbringst, deinen Seelenschmerz in Prosa umzuwandeln, dann, so glaube ich, kannst du etwas schreiben, das der Veröffentlichung wert ist.«
Diese Hoffnung sollte sich jedoch nie erfüllen. Obwohl Branwell es schaffte, noch zwei weitere Gedichte im
Halifax Guardian
gedruckt zu bekommen, gab er sein Buchprojekt nach dem ersten Band auf.
Sein Versuch und seine ermunternden Neuigkeiten über Romane hatten jedoch in mir ein Feuer entfacht.
In den vergangenen zwei Monaten hatte ich jede freie Minute auf den Gedichtband verwendet, den meine Schwesternund ich zusammenstellten. Inzwischen war das Werk vollendet und konnte einem Verleger präsentiert werden, sobald einer Interesse bekundete. Als ich jedoch nach dem Gespräch mit Branwell hellwach im Bett lag, kam mir plötzlich ein aufregender Gedanke, der mich erbeben ließ. Der Gedichtband war vielleicht nur eine Fingerübung gewesen, ein Mittel zum Zweck. Er war der Versuch, ein Werk zu veröffentlichen, so gut ich es eben vermochte. Aber was ich wirklich wollte – was ich mir, seit ich mich erinnern konnte, mehr als alles andere auf der Welt wünschte –, das war nicht nur, etwas von mir veröffentlicht zu sehen, sondern eine bekannte Romanautorin zu werden.
Ich wollte unbedingt einen Roman schreiben.
Konnte es sein, dass Branwell recht hatte?, fragte ich mich mit wachsender Erregung. Konnte ein Roman, selbst der einer neuen und unbekannten Autorin, auf so viel Nachfrage stoßen? Wenn das stimmte, dann hatte vielleicht auch ich – die Tochter eines Pfarrers, die in einem abgelegenem Dorf in Yorkshire lebte und keine Beziehungen zur literarischen Welt hatte – eine Chance auf einen gewissen Erfolg, wie bescheiden er auch immer sein mochte. Ich tat die ganze Nacht hindurch kein Auge zu, während ich über die Möglichkeiten nachgrübelte, die sich mir
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