Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
durchqueren. Flossy und Keeper sprangen fröhlich neben uns her. Es hing noch immer eine dicke graue Wolkendecke über uns, wenn auch an manchen Stellen schon die Sonne hoffnungsvoll hervorblitzte und an den äußersten Enden des dunstigen Horizontes der Himmel heller schimmerte.
»Branwell hat mir gestern etwas sehr Interessantes erzählt«, sagte ich, während wir zügig voranschritten.
»Branwell?«, fragte Emily in gespielter Überraschung. »Er hat tatsächlich einmal einen klaren Augenblick gehabt?«
»Ja.« Ich blieb stehen und atmete die frische, feuchte Novemberluft in tiefen Zügen ein, freute mich an der kühlen Brise, die mir über die Wangen strich, und bewunderte die Aussicht. Meilenweit graugrünes Heideland, hier und da von einer niedrigen Steinmauer durchschnitten, und kein anderes Lebewesen in Sicht außer den frei herumstreunenden Schafenund kein anderes Geräusch zu hören als ihr Blöken, das Rauschen des Windes und die Rufe der Vögel.
»Nun?«, fragte Emily, denn sie und Anne waren bereits zehn Schritt vorausgeeilt. »Wirst du es uns erzählen, oder müssen wir es erraten?«
Ich lachte und lief ihnen nach. »Branwell behauptet, dass sich bei den gegenwärtigen Verlagen und den heutigen Lesern ein Roman am besten verkaufen lässt.«
»Ein Roman?«, erwiderte Anne und machte ein seltsames Gesicht.
»Er meinte, ein Autor könnte dafür zweihundert Pfund bekommen.«
»Aber was kann man schon auf irgendetwas geben, das Branwell sagt?«, meinte Emily skeptisch. »Er lügt in letzter Zeit so oft. Ich fürchte beinahe, dass jedes Wort aus seinem Mund erfunden ist, um eine Verfehlung zu verdecken oder seiner Eitelkeit noch mehr zu schmeicheln.«
»Aber damit könnte er recht haben«, antwortete ich. »Ich gebe zu, ich weiß nichts über das Verlegen von Büchern, aber Romane scheinen bei den Lesern immer beliebter zu werden und mehr und mehr Wertschätzung zu genießen. Das hat mich besonders gefreut, weil ich …« Ich zögerte, stürzte mich dann aber kopfüber in mein Bekenntnis: »Jetzt, da unser Gedichtband fertig zur Veröffentlichung ist, habe ich mir überlegt, dass ich versuchen werde, einen Roman zu schreiben.«
»Oh?«, sagte Emily. »Ich dachte, du hättest diese Art von Schriftstellerei aufgegeben, um zu tun, was praktisch und klug ist. ›Die Phantasie sollte gezähmt und sorgfältig zurechtgestutzt werden‹, hast du vor nicht allzu langer Zeit gesagt, ›und die unzähligen Illusionen der Jugendzeit müssen hinweggefegt werden.‹ Ich glaube, das waren deine Worte.«
»Ja, das habe ich gesagt und auch gemeint. Anstelle vonromantischen Geschichten und Abenteuern möchte ich etwas schreiben, das lebensnah, schlicht, wahrhaftig und einfach ist. Mein Held wäre kein Herzog von Zamorna, sondern ein Schullehrer, ein Mann, der sich mit Arbeit seinen Lebensunterhalt verdient, wie ich es bei Männern im wirklichen Leben gesehen habe.«
»Das klingt vielversprechend«, meinte Anne.
»Es klingt langweilig«, sagte Emily, »unglaublich langweilig. Und doch, wenn du so etwas schreiben willst, Charlotte, dann denke nicht nur drüber nach, rede nicht nur drüber, sondern tu’s.«
»Das habe ich gemacht«, platzte ich heraus. »Ich habe im letzten Herbst mit einer Geschichte begonnen. Mit etwas Anstrengung kann ich, glaube ich, einen einbändigen Roman daraus machen.«
»Gut«, sagte Emily. Wir schwiegen eine Weile und gingen weiter.
Dann murmelte Anne schlicht: »Ich schreibe auch an einem Roman.«
»Du? Seit wann?«, fragte ich.
Anne schien der Mut zu verlassen; ihre Wangen erröteten, als sie den Blick abwandte und leise antwortete: »Ich habe vor einigen Jahren in Thorp Green damit angefangen. Seither arbeite ich ab und zu daran, wann immer ich Zeit dazu finde. Ich wollte es euch erzählen, hatte aber Angst, ihr würdet mich auslachen. Ihr habt doch gesagt, das Romanschreiben sei eine oberflächliche Beschäftigung.«
»Ich bin sicher, du könntest niemals etwas Oberflächliches schreiben, Anne. Warum geht es in deinem Buch?«
»Ich nenne es
Passages in the Life of an Individual
2 . Es geht um die Irrungen und Wirrungen im Leben einer jungen Frau, die Gouvernante ist, und um den jungen Hilfspfarrer, den sie aus der Ferne liebt.«
Ich hatte kaum Zeit, diese Nachricht zu begreifen, als Emily sagte: »Ich schreibe auch an einem Roman.«
Ich starrte meine Schwestern ungläubig an. Anne mit ihrer hold errötenden Bescheidenheit und ihrer stillen Anmut und Emily, die uns ihr
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