Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
tatsächlich Monsieur Héger) kurz in seiner Schimpftirade innehielt, um einen tiefen Zug an seiner Zigarre zu machen, »
les pupilles anglaises sont arrivées
.« 11 Sie deutete mit einer Kopfbewegung in unsere Richtung.
Der kleine Mann wandte sich um und schaute uns an. Im sanften Flackern des Kerzenscheins, der den Raum erhellte,konnte ich seine Gestalt und seine Gesichtszüge ausmachen. Er war kleiner als die meisten Männer, noch jung (er war dreiunddreißig Jahre alt, fünf Jahre jünger als seine Gattin, nur sieben Jahre älter als ich) und kein Mann von großer Schönheit. Sein Teint war so dunkel wie seine Miene (die sich allerdings langsam aufhellte) und wie der dichte schwarze Bart, der Gesicht und Kinn einrahmte, gesträubt wie die Haare einer wütenden Katze.
»Ainsi je vois«
12 , erwiderte er und musterte uns durch seine
lunettes
13 .
Wie von Zauberhand verflog seine Wut. Diese drei Worte, die in sanftem, wohlklingendem und reinstem Französisch gesprochen wurden, drückten Überraschung, Wärme und Gastfreundschaft aus. Der neue Tonfall war so sehr das genaue Gegenteil von dem, was wir gerade eben gehört hatten, dass es schien, als hätte eine völlig andere Person gesprochen. Monsieur wandte sich wieder seiner Frau zu, gab ihr einen liebevollen Kuss und umarmte dann herzlich jedes seiner Kinder. Erst danach schritt er durch den Salon zu uns und reichte Emily und mir die Hand. Er sprach Französisch; während unseres Aufenthaltes im Pensionat wurden alle Unterhaltungen nur in französischer Sprache geführt. Doch in diesem Tagebuch werde ich das meiste auf Englisch festhalten.
»Willkommen in Brüssel und in unserer bescheidenen Einrichtung«, sagte er, und seine blauen Augen blitzten, während wir aufstanden und ihm nacheinander die Hand schüttelten. »Setzen Sie sich! Setzen Sie sich! Sie sind Mademoiselle Charlotte und Mademoiselle Emily, nicht wahr? Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise?«
Emily nickte stumm, nachdem wir wieder Platz genommen hatten. Ich erwiderte;
»Oui, monsieur«
, höchst erfreut, dass ich ihn verstanden hatte. Aber da hörte das Vergnügen auch schon auf.
Monsieur Héger warf sich auf den breiten, bequemen Sessel neben uns und begann, mit großer Geschwindigkeit in seiner Muttersprache zu reden. Zu diesem Zeitpunkt waren seine Worte sowohl für mich wie auch für meine Schwester kaum verständlich, und wir begriffen ihre Bedeutung erst einige Monate später, als er sie im Rückblick für uns übersetzte:
»Als Sie uns geschrieben haben, Mademoiselle Charlotte, waren meine Frau und ich so angetan vom schlichten, ernsthaften Ton Ihres Briefes, in dem Sie uns über Ihre Wünsche und gleichzeitig über Ihre finanziellen Grenzen unterrichteten, dass wir uns sagten: Hier haben wir die Töchter eines englischen Pfarrers von bescheidenem Einkommen, die aber lernen wollen, damit sie andere unterrichten können. Wir wollen sie sofort annehmen und ihnen vorteilhafte Bedingungen anbieten.« Er lächelte, legte eine Pause ein und erwartete offensichtlich eine dankbare Antwort. Da er keine bekam, runzelte er seine dunklen Brauen. »Ich nehme doch an, dass Sie unsere Bedingungen akzeptabel fanden, da Sie ja hergekommen sind?«
Als Emily und ich weiterhin schwiegen und unsicher dreinschauten, sagte er in leicht gereiztem Tonfall: »Sie haben mir in französischer Sprache geschrieben. Ich habe also angenommen, dass Sie zumindest über ein gewisses Maß an Französischkenntnissen verfügten. Wie wollen Sie sonst hier zurechtkommen? Hat eine von Ihnen auch nur die leiseste Ahnung, was ich gerade gesagt habe?«
Sein Wortschwall hatte mich so benommen gemacht, dass ich, selbst wenn ich ihn vollständig verstanden hätte, nicht in der Lage gewesen wäre, mir eine intelligente Antwort einfallenzu lassen. Während er uns so anblitzte, ging mir noch ein anderer Gedanke durch den Kopf: wie viel schlimmer musste das alles Emily erscheinen! Denn außer den sechs Monaten Französischunterricht, die sie während ihres kurzen Aufenthaltes in der Roe Head School genossen hatte (während eines Teils der Zeit, die ich dort als Lehrerin verbrachte), bestand Emilys einzige Erfahrung mit dieser Sprache aus dem, was ich ihr zu Hause beigebracht hatte und was sie selbst aus ihrer Lektüre gelernt hatte.
»
Monsieur «
, sagte ich zögerlich und mit hochroten Wangen,
»je suis désolée, mais vous parlez trop rapidement.«
14
»Nous ne comprenons pas«
15 , fügte Emily schlicht mit fester Stimme
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