Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
den Gesprächen mit mir. Und sie machte ihre Arbeit, sie arbeitete wie ein Tier.
Im Gegensatz zu meiner Schwester war ich von Anfang an glücklich. Ich fand mein neues Leben wunderbar. Es entsprach meiner Natur sehr viel mehr als das, was ich als Gouvernante erlitten hatte. Ich wandte mich dem Lernen so begierig zu wie eine Kuh, die man lange mit trockenem Heu abgespeist hat, sich einer frischen Wiese zuwendet. Ich war ständig mit irgendetwas beschäftigt, und die Zeit verging wie im Flug.
Wir statteten den Jenkins’ einige Male am Sonntag einen Besuch ab, aber sie schienen zunehmend enttäuscht, weil es ihnen nicht gelang, uns in belanglose Gespräche zu verwickeln, für die Emily und ich nur wenig Begabung zeigten. Und so wurden wir schon bald nicht mehr eingeladen. Dagegen genossen wir die lebendigen, fröhlichen Tage sehr, die wir bei unseren Freundinnen Martha und Mary Taylor im Château de Koekelberg verbrachten, einem teuren Mädcheninternat, das nordwestlich von Brüssel auf dem Land lag. Da wir sonst unter Fremden lebten, war es herzerwärmend, eine Zeitlang mit Freundinnen zusammen zu sein.
»Ich bin genau wie ihr hergekommen, um Französisch zu lernen«, sagte Mary in jenem März während unseres ersten Besuchs im Château de Koekelberg, als wir durch den ausgedehnten Park der Schule spazierten, »aber die meisten Schülerinnen in dieser Einrichtung sind Engländerinnen oder Deutsche, und das bisschen Französisch, das hier gesprochen wird, ist wirklich nicht sonderlich gut.«
»Ach, nörgle doch nicht an allem herum!«, gab Martha zurück und zog ihre Schwester spielerisch an den langen, dunklen Locken. Martha, das wunderbar spitzbübische Mädchen, das uns alle in der Roe Head School so oft zum Lachen gebracht hatte, war zu einer genauso quicklebendigen und lustigen jungen Frau herangewachsen. »Unsere neue Französischlehrerinkommt übermorgen, und dann werden wir schon die erwünschten Fortschritte machen.«
»Wir haben bei unseren Spaziergängen durch die Stadt etwas Merkwürdiges gesehen«, sagte ich. »Bilden wir uns das nur ein, oder schminken sich hier einige der Herren?«
»Doch, das tun sie!«, rief Mary mit einem Lachen.
»Das ist der letzte Schrei!«, fügte Martha hinzu. »Ist das nicht komisch? Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht Ellen etwas Schminke für ihren Bruder George schicken soll. Oh, und noch etwas anderes ist heutzutage große Mode: Anstelle von Briefen schickt man Berge leerer Seiten an Freunde im Ausland! Sollen wir Ellen zum Spaß so etwas schicken?«
Mary und ich mussten über diese Idee lachen, aber Emily runzelte die Stirn und sagte: »Das wäre eine große Verschwendung von Papier und Porto.« Wir stimmten ihr schließlich alle zu. Höchst vergnügt machten wir uns auf den Weg in die Bibliothek, um unsere Kommentare zu einem Brief hinzuzufügen, den Mary bereits an Ellen zu schreiben begonnen hatte.
In Brüssel lernte ich, wie ich meine Kleidung besser auf meine schmale Figur abstimmen konnte. Tante Branwell hatte Emily und mir großzügig eine Summe für unvorhergesehene Ausgaben mitgegeben, und nach dem ich die Fertigkeiten der belgischen Schneiderinnen kennengelernt und erfahren hatte, wie angemessen ihre Preise waren, gab ich einen Teil meines Taschengeldes für ein neues Kleid aus. Ich war sehr aufgeregt, als es schließlich eintraf! Ich hatte eine hellgraue Seide ausgewählt und einen Schnitt mit einem auf Figur gearbeiteten Oberteil mit schmaler Taille
,
einem angekräuselten, weiten Rock, schmalen Ärmeln und einem weiß bestickten Kragen. Ich hatte auch einen neuen, weiten Unterrock mitbestellt. Es war nur ein einziges Kleid, und ich war gezwungen, es ständigzu tragen, außer am Waschtag, und gleich auszubessern, wenn es notwendig war. Aber wenn ich es trug, hatte ich nicht mehr so sehr das Gefühl, sichtbar nicht dazu zu gehören.
Emily jedoch bestand darauf, dasselbe altmodische Kleid zu tragen, das sie seit ihrer Kindheit bevorzugte. Wenn die anderen Schülerinnen sich über Emilys seltsamen Kleidungsstil lustig machten, antwortete sie mit ungerührter Miene: »Ich möchte so sein, wie Gott mich geschaffen hat.« Auf diese Antwort erntete sie ungläubiges Staunen, und sie schuf dadurch nur noch eine größere Distanz zu den anderen.
Sechs Wochen nach unserer Ankunft gebar Madame Héger ihren ersten Sohn, Prospère. So sahen wir sie während unserer ersten Monate im Pensionat recht selten; meist ruhte sie oder hatte in der Kinderstube zu
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