Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
den Schlafsaal geführt, einen langen Raum, der von fünf großen Flügelfenstern erhellt wurde, die so groß waren wie Türen. Zehn schmale Betten standen zu beiden Seiten, voneinander durch weiße Vorhänge getrennt, die von der Decke herabhingen. Unter jedem Bett war eine große Schublade, die, wie Mademoiselle Blanche erklärte, zur Kleideraufbewahrung diente. Zwischen den Betten befanden sich jeweils kleine Kommoden mit zusätzlichen Schubladen, auf denen auch für jede Schülerin eine persönliche Waschschüssel mit Wasserkrug und ein Spiegel standen. Alles war adrett, sauber und ordentlich, bemerkte ich anerkennend.
»Madame Héger hat diese Ecke für Sie reserviert«, sagte Mademoiselle Blanche, während sie uns zu den Betten am hintersten Ende des Raumes führte, die von den übrigen durch einen weiteren Vorhang abgetrennt waren. »Sie hat diesen Vorhang eigens anbringen lassen, in Anbetracht Ihres Alters, weil sie meinte, Sie wünschten vielleicht ein wenig Privatsphäre.«
»Wie fürsorglich von ihr«, erwiderte ich in ihrer Sprache, während ich mich mit einem Lächeln in unserer Ecke umsah. Ich ahnte, dass wir hier sehr glücklich sein würden. Zunächst würde es seltsam sein, mit sechsundzwanzig wieder zum Schulmädchen zu werden und nach Jahren der Arbeit als Gouvernante und Lehrerin wieder Befehle zu befolgen, anstatt sie zu geben. Aber ich glaubte, dass es mir Vergnügen bereiten könnte. Wenn es um das Erwerben von Wissen ging, war es mir immer viel leichter gefallen, mich unterzuordnen, als selbst Befehle auszugeben.
Emily und ich verbrachten den Rest des Nachmittags damit, unsere Koffer auszupacken und uns einzurichten. An jenem Abend erhielten wir eine Einladung zu den Hégers in ihrem privaten Salon.
Ich wusste, dass Madame und Monsieur Héger sechs Jahre verheiratet waren und dass sie zur Zeit unserer Ankunft drei Töchter zwischen ein und vier Jahren hatten. Trotzdem war ich nicht auf die Szene vorbereitet, die Emily und mich beim Betreten des Salons erwartete. Madame lag halb zurückgelehnt auf dem Sofa beim Kachelofen, barg mit einem ihrer üppigen Arme ihr Jüngstes an der Brust, in der anderen Hand hielt sie ein Buch, aus dem sie eine Geschichte vorlas. Ihre älteste Tochter saß aufmerksam lauschend neben ihr, und das mittlere Kind spielte ruhig zu ihren Füßen auf dem Teppich. Es war ein Bild so gelassener und vollständiger mütterlicher Wonne, wie ich es in meiner gesamten Zeit als Gouvernante nie zu sehen bekommen hatte.
Da begriff ich, was diese Schule so ungewöhnlich machte: Sie wurde von einem Ehepaar geführt, das mit seiner Familie auf dem Schulgelände wohnte, und war daher von einer häuslichen Atmosphäre erfüllt – und so verblüffend anders als alle anderen Lehranstalten, die ich bisher kennengelernt hatte. Dieser Unterschied sollte sich mir in Kürze noch deutlicher zeigen.
Madame Héger lächelte, als wir eintraten, und deutete mit einem Nicken auf das Sofa am anderen Ende des Zimmers. »
Bon soir. Asseyez-vous, s’il vous plaît. Monsieur approche dans un instant
.« 9
Wir setzen uns. Wie angekündigt, waren schon bald Schritte zu vernehmen, die sich auf dem Flur näherten, aber es warkeineswegs ein leises Geräusch. Die Schritte ähnelten eher dem raschen, hallenden Klang des Donners, dem Vorboten nahenden Unheils. Mein Herz begann vor Angst zu pochen, da flog schon die Tür mit einem gewaltigen Krachen von Klinke und Schloss auf. Wie eine Naturgewalt stürmte ein kleiner, dunkler Mann herein, der eine Wolke von Zigarrenrauch hinter sich herzog. Er trug einen formlosen rußschwarzen Paletot, dazu eine runde Kappe mit einer Quaste, die in einem gewagten Winkel auf seinem kurzgeschorenen Schädel saß. In furchtbarem Zorn marschierte er auf die Frau auf dem Sofa zu, fuchtelte wütend mit seiner Zigarre herum und spuckte eine Schimpftirade in französischer Sprache aus, von deren Inhalt ich nur sehr wenig verstand, wenn ich auch aus der häufigen Erwähnung der Wörter
étudiant
10 und Athénée schloss, dass es irgendetwas mit den Schülern in der Knabenschule nebenan zu tun hatte.
Wer ist bloß dieser schreckliche kleine Mann?, überlegte ich, während Emily und ich einander einen beunruhigten Blick zuwarfen und entgegen aller Wahrscheinlichkeit darauf hofften, dies möge nicht Monsieur Héger sein. Madame hörte ihn ruhig, schweigend und geduldig an. Die Kinder zuckten nicht mit der Wimper.
»Mon cher«
, sagte Madame, als ihr Ehemann (denn es war
Weitere Kostenlose Bücher