Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
schienen und deren große, wohlklingende Glocken feierlich und trostreich die Stunden schlugen.
»Die Rue d’Isabelle«, erklärte Mr. Jenkins (der englische Geistliche an der britischen Botschaft in Brüssel, der freundlicherweise zusammen mit seiner Frau Papa, Emily und mich inseiner Kutsche vom Hotel zur Schule brachte), »befindet sich etwa auf halbem Weg zwischen dem tiefer gelegenen, mittelalterlichen Stadtkern und dem modisch eleganten Viertel im oberen Teil.«
»Wir haben hier einen wunderschönen Park und Palast«, fügte Mrs. Jenkins hinzu, »und viele herrliche Adelshäuser sowie Hotels.«
Es sollte etwas dauern, bis Emily und ich die Zeit fanden, die faszinierende Stadt zu erkunden, in der wir nun wohnten. Als ich an jenem grauen Februarmorgen das Pensionat zum ersten Mal erblickte, schien es mir ein schmuckloses und wenig attraktives Gebäude zu sein. Es war gerade einmal vierzig Jahre alt, zwei Stockwerke hoch und wesentlich massiger und einen Stock höher als alle Häuser ringsum. Eine Reihe großer, vergitterter rechteckiger Fenster blickte auf die Straße hinaus. Dieses schmucklose Äußere ließ in keiner Weise auf das zauberhafte Interieur schließen.
Wir wurden von einer Pförtnerin eingelassen, die unsere kleine Gesellschaft durch einen mit schwarzem und weißem Marmor gefliesten Flur führte. Der längliche Eingangsbereich war kunstvoll so gestrichen, dass die Wände ebenfalls wie aus Marmor wirkten. An einer langen Reihe von hölzernen Kleiderhaken hingen Umhänge, Hauben und Schultaschen.
»Sieh nur!«, rief Emily voller Überraschung und mit der Andeutung eines Lächelns. »Ein Garten!« Sie wies auf eine Glastür, durch die ich einen Blick auf Efeuranken und andere immergrüne Gewächse erhaschte. Ich hatte jedoch nicht viel Zeit, all das näher zu betrachten, denn wir wurden bereits in einen Raum linker Hand gebeten, wo wir warten sollten.
Wir befanden uns in einem funkelnden und strahlend schönen Salon mit auf Hochglanz poliertem Fußboden, farbenfroh bezogenen Stühlen und Sofas, Bildern in Goldrahmen, einemschönen Tisch in der Mitte und einem grünen Kachelofen. Diese Art von Ofen, die uns schon bald sehr vertraut werden sollten, war das belgische Gegenstück zu unserem Kamin. Und obwohl ihm der schöne Anblick des flackernden Feuers fehlte, verteilte er doch die Wärme auf höchst effektive Weise im Raum.
»
Monsieur Brontë, n’est-ce pas
?« 2 , hörte ich eine Stimme hinter uns, in einem Akzent, den ich später als breitestes Brüsseler Französisch kennenlernte.
Ich zuckte ein wenig zusammen, denn ich hatte niemanden eintreten gehört oder gesehen. Ich wandte mich um und erblickte mit einiger Überraschung unsere Schulleiterin. Mit einiger Überraschung, weil ich mir als Direktorin jemanden vorgestellt hatte, der älter und altjüngferlicher war, eine Frau, die meiner früheren Schulleiterin Miss Wooler mehr ähnelte. Die Frau vor mir schien jedoch kaum mehr als dreißig Jahre alt zu sein (sie war, wie ich bald herausfand, achtunddreißig). Sie war klein und ein wenig untersetzt, hielt sich aber anmutig. Ihre Gesichtszüge waren unregelmäßig – nicht schön, doch hässlich war sie auch nicht. Die gelassene Heiterkeit, die in ihren blauen Augen lag, die Frische ihres weißen Teints, der Schimmer ihres üppigen nussbraunen Haars (das zu strengen Locken frisiert war), all das war angenehm anzuschauen. Ihr dunkles Seidenkleid saß vollkommen, ein beredtes Zeugnis für das Geschick der französischen Schneiderin, die es genäht hatte, und es hob ihre Vorzüge hervor, ihre liebliche, mütterliche Seite – denn sie befand sich damals im siebten Monat ihrer Schwangerschaft.
»Je m’appelle Madame Héger«
3 , sagte sie mit einem kleinen Lächeln und in einem Ton förmlichen Willkommens, während sie erst Papa, dann Mr. Jenkins, Mrs. Jenkins, Emily und mir der Reihe nach die Hand reichte. Sie war der Inbegriff einer elegant gekleideten Dame vom Kontinent. Leichte Pantoffeln schauten unter dem Saum ihres Kleides hervor – Pantoffeln, die es ihr erlaubt hatten, leise hinter uns in den Salon zu treten – eine geräuschlose Methode der Fortbewegung, die ihr, wie ich später herausfinden sollte, bei der Leitung ihrer Schule unschätzbare Dienste leistete.
Nachdem Papa zu verstehen gegeben hatte, dass er kein Französisch sprach, und sie eingestanden hatte: »Mein Englisch ist nicht sehr gut«, folgte eine rasche Unterhaltung zwischen ihr und den Jenkins’, von der ich nicht
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