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Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Titel: Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Syrie James
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tun. Später in diesem Schuljahr, als ich mehr Kontakt zu ihr hatte, stellte ich fest, dass sie eine Frau von großer Würde und eine fähige Schulleiterin war. In der Geborgenheit dieses wohlgeordneten Haushaltes wuchsen und gediehen hundert gesunde, lebhafte, gut gekleidete junge Damen und erweiterten ihr Wissen ohne übertriebene Anstrengungen oder übermäßig strenge Disziplin. Die Unterrichtsstunden waren gut verteilt und der Stoff wurde in leicht verständlicher Form vermittelt, es gab viel Freiraum für Vergnügungen und gesunde Leibesübungen, und es wurde reichlich und sehr gutes Essen gereicht. Manch eine gestrenge englische Schullehrerin täte gut daran, überlegte ich, Madame Hégers Methoden nachzuahmen.
    Das waren zumindest meine anfänglichen Eindrücke von ihr – und sie gerieten erst sehr viel später ein wenig ins Wanken.
    Monsieur Héger sahen Emily und ich hingegen von Anfang an jeden Tag in unserer Schreibklasse und einmal wöchentlich zu unserem Privatunterricht. Er war ein strenger, aber hervorragender Lehrer; was seine Launen und sein Temperamentbetraf, war er das genaue Gegenteil seiner Frau: reizbar, stürmisch, jähzornig und oft unvernünftig. Gelegentlich kam jedoch eine andere Seite an ihm zum Vorschein, eine weitaus leichtherzigere und verspieltere Seite. Manchmal platzte Monsieur Héger ohne Vorankündigung während der abendlichen Studierzeiten in den Speisesaal, wo sie abgehalten wurden, und verwandelte diese ruhige, beinahe klösterliche Versammlung in eine übersprudelnde
affaire dramatique
16
.
    »
Mesdemoiselles
!«, rief er dann, klatschte in die Hände und übernahm das Kommando im Raum wie Napoleon. »Legen Sie Bücher, Schreibfedern und Papier aus der Hand und holen Sie Ihre Handarbeitsbeutel hervor. Zeit für ein wenig Unterhaltung!«
    Lehrerinnen und Schülerinnen, die alle an den langen Tischen unter den Lampen saßen, reagierten mit der gleichen Begeisterung. Monsieur Héger, der vorne im Saal stand, zog nun gewöhnlich ein schönes Buch oder eine Reihe von Broschüren hervor und unterhielt uns mit der Lektüre von Passagen aus irgendeiner bezaubernden Geschichte oder einem witzigen Fortsetzungsroman. Sein Vortrag zeichnete sich durch großen Schwung und Geschick aus, und er achtete sorgsam darauf, alle Abschnitte auszulassen, die für die Ohren junger Damen nicht geeignet waren, und ersetzte sie oft durch überaus amüsante improvisierte Prosa und Dialoge. Diese leider viel zu seltenen Abende brachten alle Versammelten in Hochstimmung, und ich begann sie mit großer Vorfreude zu erwarten.
    Der kleine Mann blieb jedoch voller Widersprüche, war völlig unberechenbar und schwankte zwischen hellen und dunklen Stimmungen hin und her. Ich glaube, er fand einigenGefallen daran, zu beobachten, welche Gefühle er mit seinem ständig veränderten Gesichtsausdruck und seinen Gedankensprüngen und Launen hervorzurufen vermochte. Er konnte eine Schülerin mit einer einzigen kleinen Bewegung der Lippe und des Nasenflügels vernichten und sie mit einem winzigen Zucken eines Augenlids in höchste Freuden versetzen. Wir waren bereits ein wenig länger als zwei Monate im Pensionat, als Monsieur Héger während einer unserer Privatstunden mein Heft voller Verachtung über meine jüngsten Versuche der Übersetzung eines englischen Aufsatzes ins Französische vor mir auf den Tisch klatschte.
    »Sie schreiben Französisch wie ein kleiner Automat!«, knurrte er. »Jedes Wort scheint das Ergebnis einer überängstlichen Konsultation des Wörterbuchs und der Grammatikregeln zu sein, hat aber keinerlei Ähnlichkeit mit der wirklichen Sprache! Ihre jüngere Schwester, die weniger Erfahrung hat, schreibt wesentlich bessere und präzisere Übersetzungen!«
    »Es tut mir leid, Monsieur!«, sagte ich, zutiefst beschämt.
    »Ab jetzt, Mademoiselle, verbiete ich Ihnen, bei Ihren Übersetzungen ein Wörterbuch oder eine Grammatik zu benutzen!«
    »Aber Monsieur! Wie kann ich ohne ein Wörterbuch oder eine Grammatik übersetzen?«
    »Benutzen Sie Ihr Gehirn!«, rief er, tippte sich an den Kopf und schaute mich mit drohender Miene durch seine Brille an. »Hören Sie darauf, was um Sie herum geschieht. Hören Sie darauf, wie Französisch gesprochen wird. Und das, was Sie hören, lassen Sie durch Ihre Fingerspitzen aufs Papier fließen, wenn Sie schreiben!«
    »Ich werde es versuchen, Monsieur.« Irgendetwas am Zorn dieses Mannes trieb mir immer Tränen in die Augen. Ich war nicht unglücklich, noch

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