Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Charlotte anreden mussten. In den ersten Monaten meiner neuen Aufgabe stellten sie mich gar manches Mal auf die Probe. Aber ich war der Herausforderung gewachsen und entschlossen, ihnen – und den Hégers – zu beweisen, dass ich mich behaupten konnte. Ich fand meine Umgebung anregend und elektrisierend, und ich blühte weiterhin auf.
Liebes Tagebuch, bisher habe ich viele lieb gewordene Erinnerungen aufgezeichnet, die mir so süß sind wie der Honig, den die Biene aus den Blüten saugt. Aber nun muss ich mich von jenen angenehmen Gedanken abwenden. Während das Lebenin Brüssel seinen stetigen, geordneten Gang ging, stand in Haworth keineswegs alles zum Besten. Wir erfuhren im September aus einem Brief von Papa, dass die Cholera über unser Dorf hereingebrochen war. Viele Menschen waren dieser Krankheit zum Opfer gefallen. Einer davon war der reizende junge Hilfspfarrer William Weightman; nach einem Besuch bei den Armen und Kranken war er selbst erkrankt und gestorben.
Aller schlechten Dinge, habe ich festgestellt, sind oft drei, und jener Herbst war da keine Ausnahme. Ende Oktober starb Martha Taylor – auch an der Cholera. Dass Martha in einem so hervorragenden Bildungsinstitut wie dem Château de Koekelberg in Belgien sterben konnte, schien uns undenkbar! Ich hatte niemals eine sorglosere Freundin gekannt als Martha; sie war der Liebling ihrer Familie gewesen und eine hochgeschätzte Gefährtin ihrer Schwester Mary. Jetzt war sie uns zu meiner Trauer und Überraschung im Alter von dreiundzwanzig Jahren entrissen worden, ehe noch ihr Leben richtig begonnen hatte.
Der dritte Schicksalsschlag ereilte uns nur wenige Tage später. Papa schrieb, um uns mitzuteilen, dass Tante Branwell gestorben war, nachdem sie einen Darmverschluss erlitten hatte. Benommen von dieser raschen Abfolge trauriger Ereignisse packten Emily und ich rasch unsere Habseligkeiten zusammen. Obwohl es zu spät war, um noch rechtzeitig zum Begräbnis nach Hause zu reisen, wussten wir doch, dass wir unverzüglich nach England zurückkehren mussten. Branwell und Papa waren allein; ohne eine Frau, die ihnen den Haushalt führte, kamen sie nicht zurecht.
Am Abend vor unserer Abreise hielt ich mich allein im Schlafsaal auf und packte meinen Koffer. Während ich das tat, waren meine Augen tränenblind – ich war nicht nur todtraurig,weil meine Tante, Martha und William Weightman gestorben waren, sondern ich war auch traurig, weil wir so plötzlich aus Brüssel fortmussten, und ich so unvermittelt aus einem Leben gerissen wurde, das ich zu lieben gelernt hatte. Ich hörte, wie am anderen Ende des Schlafsaals eine Tür aufging. Schritte näherten sich, die Schritte eines Mannes, wie ich sofort erkennte. Vor dem weißen Vorhang kamen sie zum Stehen. Dann vernahm ich Monsieur Hégers Stimme: »Mademoiselle Charlotte? Darf ich hereinkommen?«
Ich bejahte mit tränenerstickter Stimme.
Er zog den Vorhang zur Seite und trat zu mir. »Ich bedaure Ihren tragischen Verlust so sehr«, sagte er in mitfühlendem und aufrichtigem Ton.
Ich dankte ihm. Er kam einen Schritt näher und legte mir ein Buch in die Hände. Durch einen Tränenschleier hindurch sah ich, dass es ein wunderschön gebundener deutscher Text war. »Was ist das?«
Er zog sein Taschentuch hervor – ein Vorgang, den er im Laufe der vergangenen neun Monate unzählige Male während unserer Streitgespräche im Schulzimmer wiederholt hatte und der zu einem Ritual geworden war –, und wie immer trocknete ich mir damit die Tränen. »Das Buch ist ein Geschenk. Ich hoffe, dass es Sie in die Lage versetzt, Ihre Studien in einer Sprache fortzusetzen, die Sie, glaube ich, gerade eben erst wirklich schätzen lernen.«
»Danke«, antwortete ich, gerührt, dass er an so etwas gedacht hatte. Ich gab ihm sein Taschentuch zurück. Als er es an sich nahm, drückte er mir kurz und zärtlich die Hand. Die Wärme dieser kostbaren Berührung ließ mich erbeben.
»Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren, den man sehr liebt.«
Ich nickte stumm, und die Gefühle schnürten mir den Halszu. Ich ging davon aus, dass er sich damit auf die Erinnerung an seinen Vater oder seine Mutter bezog. Aber dem war nicht so. Er fuhr leise fort: »Ich war vor meiner jetzigen Ehe schon einmal verheiratet. Wussten Sie das?«
Die Überraschung gab mir meine Stimme wieder. »Nein, Monsieur.«
»Ihr Name war Marie-Joséphine Noyer.« Er sprach den Namen mit großer Ehrfurcht aus. Seine blauen Augen wurden feucht, und er
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