Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
zwinkerte. »Wir waren kaum verheiratet, als 1830 die Revolution ausbrach. Ich schloss mich den Nationalisten auf den Barrikaden an. Der jüngere Bruder meiner Frau wurde an meiner Seite getötet, einer von vielen Märtyrern, die für die Freiheit Belgiens gefallen sind. Drei Jahre später erkrankten am selben Morgen meine Frau und mein Kind. Beide starben sie an der Cholera.«
Erneut rannen mir Tränen über die Wangen. »Das tut mir so leid, Monsieur.« Das, überlegte ich, erklärte, warum er oft nach außen hin so grimmig wirkte und im Inneren brodelte wie ein in einer Flasche gefangener Sturm. Niemand konnte solches Leid unverändert überstehen.
»Es ist lange her. Ich habe es Ihnen nur erzählt, damit sie verstehen, dass Sie nicht allein sind. Ich fühle mit Ihnen.«
»Ich würde meinen Verlust nicht mit dem Ihren vergleichen, Monsieur. Ich habe zwei Freunde und eine geliebte Tante verloren, nicht eine Ehefrau und ein Kind.«
»Trotzdem ist Ihr Verlust groß. Alles, was Sie empfinden, empfinden Sie tief, Mademoiselle. Aber lassen Sie sich versichern: der Schmerz wird mit der Zeit verblassen. Eines Tages werden Sie zurückschauen und statt der Trauer werden liebevolle Erinnerungen Ihr Herz wärmen.« Als ich unter Tränen nickte, reichte er mir erneut sein Taschentuch. »Behalten Sie es, Mademoiselle. Sie brauchen es nötiger als ich.« Er fügtenoch hinzu: »Bitte lassen Sie sich sagen, dass Sie und Ihre Schwester hier jederzeit willkommen sind. Madame und ich sind beide sehr bestürzt über diesen raschen Abschied. Wir haben das Gefühl, dass Sie ein Teil unserer Familie geworden sind. Sobald die Dinge bei Ihnen zu Hause geregelt sind und Sie Ihrer Tante die letzte Ehre erwiesen haben, dürfen Sie gern zurückkehren, wenn Sie möchten.«
»Das dürfen wir?« Die Ereignisse waren so blitzschnell aufeinander gefolgt, dass ich überhaupt noch nicht an die Zukunft gedacht hatte. »Müssen Sie nicht während meiner Abwesenheit einen anderen Englischlehrer einstellen?«
»Wir können zeitweilig jemanden heranziehen, vielleicht bis Weihnachten. Wenn Sie Ihre Anstellung noch möchten, steht sie Ihnen bei Ihrer Rückkehr zur Verfügung. Möchten Sie nach Brüssel und zu uns zurückkehren, Mademoiselle?«
Ich schaute ihn an, und diesmal flossen meine Augen vor Dankbarkeit über. »Oui, Monsieur, das möchte ich sehr gern.«
Von dem Augenblick an, als meine Füße den heimatlichen Boden berührten, sehnte ich mich nach Belgien zurück. Ich hatte einen kostbaren Brief von Monsieur Héger an meinen Vater mit nach Hause gebracht, in dem er unsere Fortschritte im Pensionat in den leuchtendsten Farben schilderte und wortgewandt darum bat, man möge Emily und mir erlauben, zu einem letzten Studienjahr zurückzukehren – diesmal mit einem Gehalt für unsere Lehrtätigkeit. Es mussten jedoch erst zwei schwerwiegende Dinge geklärt werden, ehe Papa unsere Rückkehr erlaubte. Wer würde den Haushalt führen, nun, da Tante Branwell nicht mehr da war? Und was sollte mit meinem Bruder geschehen? Branwell, den man früher im Jahr nach einem Streit über fehlende Gelder bei der Eisenbahn entlassen hatte, war immer noch ohne Arbeit und lungerte inder »Black Bull Tavern« herum. Der Tod meiner Tante und William Weightman hatte ihn sehr mitgenommen.
»William hat nie an sich gedacht«, sagte Branwell mit Augen, die vom Alkohol feucht und stumpf waren, als wir an einem stürmischen Novemberabend im Pfarrhaus am Kamin saßen. »Er sorgte sich nur um die Armen, die Kranken und die Schwachen. ›Wer wird sich jetzt um sie kümmern?‹, fragte er sich. ›Wer wird meine Stelle einnehmen?‹ Es hat nie einen besseren Menschen gegeben, das kann ich euch versichern! Und Tante – mein Gott! Ich saß Tag und Nacht an ihrem Bett. Ich habe so qualvolles Leiden gesehen, wie ich es meinen schlimmsten Feinden nicht wünschen würde. Zwanzig Jahre lang war sie mir Mutter, Lehrerin und Betreuerin in meinen glücklichen Kindertagen – und jetzt habe ich sie verloren. Wie soll ich weiterleben? Was sollen wir nur tun?«
Ich legte liebevoll meine Hand auf die seine. »Das Einzige, was wir tun können, ist, ihr Angedenken zu ehren – in unseren Herzen, in unseren Gedanken und dadurch, wie wir unser Leben führen. Wir müssen so leben, dass sie stolz auf uns sein könnte.« Er starrte mich ausdruckslos an, außerstande, meine Worte zu begreifen. »Du darfst nicht so viel trinken, Branwell! Das muss aufhören.«
»Was soll ich denn sonst mit
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