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Die Geheimnisse der Therapeuten

Die Geheimnisse der Therapeuten

Titel: Die Geheimnisse der Therapeuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christophe André
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fand wegzuziehen. Ich empfand es als Im-Stich-gelassen-Werden. Schmerzerfüllt beobachtete ich, wie sie sich auf ihr kleines Haus und ihre Rente freute und für meine Verzweiflung kein Verständnis aufbrachte.
    Ich hatte nicht viel Einfühlungsvermögen für sie! Wie alle Kinder kreiste ich sehr viel stärker um mich und meine Emotionen als um die Gefühle anderer. Doch ein Kind wird groß und lernt, Gefühle zu erwidern, sie zu verstehen und andere zu lieben – mit Freude in das Beziehungsleben einzutreten. Auf diese Weise konnte ich einsehen, dass es möglich ist, das Mädchen zu vergessen, das ich für meine lebenslange und beste Freundin hielt, und andere Freundschaften einzugehen. Ich verstand auch, dass die Entfernung nicht die anhaltenden Gefühle für meine Großmutter und das emotionale Band verhinderte, das ich zu ihr geknüpft hatte.
    Das Leid besiegen
    Dieses Erlernen der Beziehungen zwischen anderen und mir, des Leids, das man mit und wegen ihnen erfährt, vollzog sich in einer Atmosphäre emotionaler Sicherheit (meine Eltern waren immer da) und trotz aller Brüche in einem Klima des Beziehungsreichtums (ich war umgeben von vielen Onkeln und Tanten sowie Cousins, die nur wenig älter waren als ich). Dadurch konnte sich der Lernprozess der emotionalen Anpassung wahrscheinlich sanft und mit einer für mich im Großen und Ganzen erträglichen Intensität abspielen (auch wenn ich damals nicht dieser Meinung war). Die Erinnerungen an diese schmerzlichen Augenblicke im Rahmen des gewöhnlichen Lebens führten dazu, dass ich rasch begriff, was andere in schwierigeren oder traumatischeren Situationen empfanden. Wenn Empathie entsteht, heißt das, dass man die Gefühle, die ein anderer Mensch äußert (Leiden, Verlust, Scham, Glück), empfinden, verstehen und somit teilen kann.
    Mein Interesse, zu verstehen, wie ich selbst und meine Freunde funktionierten, und mein Wunsch, die entsprechenden negativen Einflüsse zu lindern, sind ein Resultat dieser kindlichen Erfahrungen. Ich glaube, dass sich auf diese Weise bei mir die Lust und die Fähigkeit herausbildeten, Therapeutin zu werden.
    Ich höre Menschen oft den Ausspruch von Nietzsche wiederholen: »Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.« Leid ist ein Gefühl, durch das wir uns zweifellos entwickeln, aber nur in dem Maße, in dem dieses Leiden »erträglich« ist. Es lehrt uns das Gute und das Schlechte und ermöglicht uns, über uns hinauszuwachsen und uns weiterzuentwickeln. Das Gefühl, Leid ertragen und besiegt zu haben, verleiht einem Menschen Kraft. Man kann auf diese Weise das Leid und die Emotionen anderer verstehen und teilen, die richtigen Worte finden und sie auszusprechen wagen, wenn sie selbst sie nicht wahrnehmen. Das ist Empathie.
    Das Einfühlungsvermögen und der Therapeut
    Bei einer Vernissage, die eine meiner Patientinnen gab, stand ich vor einem ihrer Bilder neben einem Mann mit einem schönen Hut, der ein Gespräch mit mir anknüpfte. Wir begannen mit dem üblichen Smalltalk. Nachdem wir schon bald feststellten, dass wir den gleichen Beruf hatten – Psychiater –, gingen wir über die gewöhnlichen Banalitäten hinaus, um uns über berufliche Banalitäten zu unterhalten. Wir kamen auf unsere Interessengebiete zu sprechen, und ich redete schließlich über die Themen, die mich interessieren und in denen ich mich gut auskenne, insbesondere über die Therapie bei Traumata und Vergewaltigung. Nachdem er mir aufmerksam zugehört hatte, erwiderte er mit Kennermiene und in einem wissenden Ton: »Du redest sehr engagiert über dein Thema, man sieht, dass es dir am Herzen liegt. Hast du dich je gefragt, ob du selbst ein Inzest- oder Vergewaltigungsopfer warst?« Ich war außerordentlich wütend und fassungslos. Muss man selbst ein traumatisches Ereignis erlebt haben, um imstande zu sein, es zu verstehen oder sich dafür zu interessieren? Ich glaube nicht.
    Ich sagte es schon zu Anfang: Leid ist konstruktiv, wenn es im Zusammenhang mit einem erträglichen Ereignis und in einem geschützten Rahmen auftritt. Ich hatte das Glück, in einer großen Familie aufzuwachsen, in der es immer jemanden gab, der sich um den anderen kümmerte. Wenn ein Onkel mich zum Weinen brachte, kam ein anderer Onkel oder eine Tante und tröstete mich. Wenn meine noch sehr jungen Eltern damit beschäftigt waren, ihre

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