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Die Geheimnisse der Therapeuten

Die Geheimnisse der Therapeuten

Titel: Die Geheimnisse der Therapeuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christophe André
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für die eifersüchtige Person.
    Diese Unterscheidung zwischen Anteilnahme und Empathie ist wichtig. Empathie hat gefühlsmäßig zur Folge, dass man das Gefühl des anderen teilt, während die Anteilnahme oder das Mitgefühl dazu führt, dass der Betreffende sich vor allem gefühlsmäßig zum anderen hin orientiert, was ein sekundärer Schritt der Empathie ist.

    Man geht auch davon aus, dass Empathie ebenso wie der Altruismus dazu dient, das Wohlbefinden eines anderen Menschen oder anderer Menschen zu erhöhen. Doch Empathie geht nicht unbedingt mit Altruismus einher. Beispielsweise kann ein Polizist einem Verdächtigen mithilfe der Empathie eine Aussage oder ein Geständnis entlocken, indem er in ihm ein Gefühl der Hilflosigkeit oder Schuld provoziert. Ein Folterer kann sich in sein Opfer hineinversetzen, um es noch stärker zu quälen. Die Empathie kann also unabhängig von einem positiven oder altruistischen Gefühl eingesetzt werden.
    Dennoch wird Empathie als eine notwendige Etappe in einer Kette von Prozessen betrachtet, zu denen das Miteinanderteilen, das Interesse an den Gefühlen anderer und die Motivation, sich auf soziale Beziehungen einzulassen, gehören.
    Der Therapeut, die Empathie und das Mitgefühl: Muss man dasselbe erlebt haben wie der Patient?
    Vor vier Jahren starb mein Bruder innerhalb weniger Monate völlig unerwartet an Krebs. Die Welt brach für uns alle zusammen. Unsere Familie war noch nie von einem so schweren Verlust heimgesucht worden. (Allerdings stimmt das nicht ganz: Mein Vater erfuhr vom Tod seines Bruders mit elf Jahren, als er getrennt von der Familie war. Man hatte ihn wie viele andere Pariser Kinder in eine Pflegefamilie in der Provinz gegeben. Er lebte dort seit einem Jahr auf einem einsamen Bauernhof, als sein Vater eines Tages ganz in Schwarz vor ihm stand und ihm mitteilte, dass sein großer Bruder – der junge Mann auf dem Foto im Wohnzimmer meiner Großmutter – bei der Bombardierung ihres Wohnhauses ums Leben gekommen war.) Mein Glaube an Sicherheit und Unsterblichkeit brach zusammen.
    Im Jahr nach seinem Tod kam eine Frau zu mir in die Therapie, weil ich ihren Worten zufolge den Ruf hatte, gut zuhören und Menschen, die furchtbare Dinge erlebt hatten, helfen zu können: »Aber vielleicht wollen Sie sich gar nicht mit mir abgeben, denn letztlich ist meine Geschichte nicht so schrecklich wie andere Geschichten.« Ich knipste meine Aufmerksamkeit an, meine Empathie war wach, ich fühlte mich sehr professionell und hörte zu. Nach und nach merkte ich, wie ich meine Fassung verlor und erstarrte. Sie erzählte von der Krankheit ihrer Tochter, den Ärzten, den Krankenhäusern und ihrem Tod. Dieselbe Krankheit, derselbe Verlauf, dieselben Ärzte, derselbe Tod wie bei meinem Bruder. Ich konnte nicht mehr zuhören, ich versuchte mit allen Mitteln, der Situation zu entrinnen. Ich blockierte die Empathie, die Anteilnahme, das Mitgefühl und alles Übrige, um zu verhindern, dass die Emotionen hochstiegen und mich überschwemmten.
    Am Ende der Stunde dankte mir die Patientin mit großer Wärme. Es habe ihr sehr gutgetan und sie wolle in der folgenden Woche wiederkommen. Wie sollte ich ihr sagen, dass das nicht möglich war? Mir fiel nichts ein, also gab ich ihr einen Termin. Und im Laufe der Stunden wurde auch ich ruhiger ebenso wie sie. Ich ging durch meinen Trauerprozess in derselben Zeit wie sie. Wir sprachen über den Tod, oder vielmehr ließ ich sie vom Tod ihrer Tochter sprechen, von den Umständen und ihren Emotionen, und in meinem Innern machte ich dieselbe Arbeit wie sie. Was ich ihr sagte, sagte ich auch zu mir. Und das tat mir gut, denn ich konnte mich mit meinem eigenen Schmerz auseinandersetzen. Ich erzählte ihr nicht von meinem Leid; sie wusste nicht, dass ich dasselbe erlebt hatte wie sie. Es war keine Anteilnahme da, das war es nicht, was sie wollte. Aber wir teilten Emotionen miteinander durch »die Empathie unserer beiden Gehirne«, die nonverbal miteinander kommunizierten, und das gestattete ihr, sich verstanden und gehört zu fühlen.
    Mit der Zeit fühlt man sich als Therapeut wohler und ist besser imstande, sich mit jeder Erfahrung und Emotion eines anderen auseinanderzusetzen, und das mit umso weniger Angst, je mehr man das Gefühl hat, ein beachtliches Gepäck von Ereignissen erfolgreich bewältigt zu haben. Experimente über die

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