Die Geheimnisse der Therapeuten
es vielleicht auf der Ursprungsseite unterbinden, aber es kann in jedem Augenblick wieder unerwartet auftauchen. Im gewöhnlichen Leben können wir alles vermeiden, was eine Erinnerung wachruft. Wir können uns beispielsweise weigern, noch einmal an den Ort einer Aggression zurückzukehren. Aber selbst wenn es uns gelingt, auf der Internetseite, die den Ursprung für das Gerücht bildete, das, was uns unangenehm ist, zu löschen, können wir doch unmöglich für die Entfernung sämtlicher Kopien auf anderen Seiten sorgen, die sich ihrerseits wieder vermehren und so weiter und so fort. Und sollten wir uns entscheiden, ein Dementi zu veröffentlichen, erhöhen wir sogar noch die Anzahl der Seiten, auf denen das erwähnt wird, was wir entfernt haben möchten. Sobald wir versuchen, nicht mehr an eine schmerzhafte Episode in unserem Leben zu denken, sobald wir das Geschehene verleugnen wollen, schaffen wir noch mehr Kopien der Erinnerung und sitzen wieder in der Falle.
Die Erinnerungen schaffen unsere Identität
Im Ãbrigen haben sich zwangsläufig auch Ihr Verhalten und Ihre Sicht von der Welt seit dem Ereignis, das Sie vergessen möchten, verändert. Sie sind ohnehin schon ein anderer Mensch. Das Löschen der Erinnerung wird nichts an dem ändern, was Sie jetzt sind. Was man begreifen muss, ist, dass es sich mit Erinnerungen nicht wie mit Werken in einer Bibliothek verhält, die wir willentlich zerstören können. Was wir erleben, verwandelt und verändert uns unausweichlich. In dem Augenblick, in dem wir die Erfahrungen aus unserem Gedächtnis streichen wollen, haben sie uns bereits verändert. Manchmal spreche ich mit meinen Patienten über die Chaostheorie. Sie haben richtig gelesen. Aber beruhigen Sie sich, ich gebe ihnen keine Physikstunde. Damit kenne auch ich mich nicht besonders aus! Ich habe einfach nur begriffen, dass eine winzig kleine Veränderung unserer Geschichte absolut alles verändert, was folgt. Wenn man sich auf das »Hätte ich bloë einlässt, stellt man sich vor, dass, wenn es anders gelaufen wäre, nur die Katastrophe nicht stattgefunden hätte und alles Ãbrige gleich geblieben wäre. Das ist ein Irrtum. Wenn Sie ein einziges Element in der Geschichte ändern, ändern Sie das Ganze. Und keiner weiÃ, in welche Richtung.
Eine Zwickmühle?
Stellen Sie sich vor, Sie hätten entweder die Wahl, sämtliche Ihrer Erinnerungen seit dem einschneidenden Vorfall zu verlieren â die guten wie die schlechten, da ja niemand vorhersagen kann, wie Ihr Leben ohne diesen Vorfall verlaufen wäre â, oder sorgfältig die Erinnerungen an die guten Augenblicke zu bewahren, aber auch an die, die Sie quälen.
Wie entscheiden Sie sich?
Trotz allem spüren wir mehr oder minder intuitiv, dass es nicht ungefährlich wäre, einen Teil unserer Vergangenheit zu verlieren. Stellen Sie sich vor, Sie könnten die schmerzhafte Erinnerung ganz und gar vergessen. Wären Sie bereit, das Risiko einzugehen, das, was Sie erlebt haben, noch einmal zu erleben? Wären Sie bereit, einen Teil Ihrer heutigen Identität zu verlieren? Was ich mit meiner Wehmut erlebe, veranschaulicht diese Ambivalenz vollkommen. Würde ich gern meine Kindheitserinnerungen loswerden? Um nichts in der Welt. Dennoch lassen sie mich auch leiden. Doch ich weiÃ, dass sie meine Persönlichkeit geprägt haben und ein Teil dessen sind, was ich bin. Bei einer schmerzhaften Erinnerung â die eine Aggression oder einen Verlust beinhaltet â könnte man ohne weiteres Lust verspüren, sie auszulöschen. Aber auch sie hat dazu beigetragen, uns zu dem zu machen, was wir heute sind. Sie ist ein Teil unseres Weges und unserer Geschichte â ein Teil von uns.
Wozu ist da s Vermeiden gut?
Manchmal tue ich das, wovon ich sehr wohl weiÃ, dass es verkehrt ist: Ich schalte auf einen anderen Kanal um, weil ich keine Reportage über den Schulbeginn sehen will, ich vermeide die Regale im Supermarkt, wo sich die Stifte und Etuis befinden. Alles hat seine Zeit, und nicht jeder Augenblick eignet sich dazu, an sich selbst zu arbeiten. Wenn ich mir trotzdem hin und wieder VerstöÃe gegen das erlaube, was ich meinen Patienten rate, dann, weil ich weiÃ, dass ich mir die Zeit nehmen werde, all das ohne Umschweife anzuschauen, und dass ich von Zeit zu Zeit an diesem Aspekt meiner Erinnerung arbeite â und nicht nur zu
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