Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
legte den Finger an die Lippen. Er deutete auf das andere Ufer, wo irgendetwas das hohe Schilf zum Zittern und Wiegen brachte. Es glitt ins Wasser, ohne sich deutlich zu zeigen, und schwamm dann rasch und geräuschlos unter der Oberfläche. Es war sehr groß. »Da kommt es.«
Lucindas Finger krallten sich in Tylers Ärmel. »Onkel Gideon«, sagte sie, »du machst mir Angst.«
»Oh, das tut mir leid, Lucinda.« Gideons Stimme klang allerdings |55| nicht so, als täte es ihm leid. »Ich bin einfach sehr stolz auf sie. Es sind Wesen direkt aus der australischen Mythologie: Bunyips.«
»Bunyips?« Tyler lachte schnaubend. »Klingt eher wie eine japanische Zeichentrickfigur.«
»Werd bloß nicht frech, du Bengel, und sag ja nichts Abfälliges über diese Wesen!« Gideons Zorn kam so schnell wie ein Sommergewitter und zog auch genauso schnell wieder ab. »Ja, Bunyips. Vermutlich ist das ein komischer Name. Es sind mythische Sumpfdämonen – aber sie sind durchaus real. Und was noch faszinierender ist, es sind Kloakentiere
.«
Etwas stieg in der Mitte des Flüsschens an die Oberfläche, dort wo es dunkel und tiefer war. Ein breiter, flacher brauner Kopf tauchte auf, in dessen gesträubtem Fell Zweige und triefende Grasbüschel hingen. Die Augen waren kohlschwarz und groß wie Untertassen.
»Das ist ja riesig!« Tylers Herz raste. Es war eine Sache, so etwas Großes im Zoo hinter Gittern zu sehen, aber eine ganz andere, im Freien nur wenige Meter entfernt von so einem Tier zu stehen. »Bunyip. Wird es rauskommen?«
»Nicht, wenn wir das Wasser meiden. Aber ich würde auf jeden Fall nicht zu dicht herangehen«, sagte Gideon. »Es sind alles männliche Tiere, sehr aggressiv. Der hier ist gekommen, weil er das Klatschen gespürt hat. Sie schwimmen von weither, um einen Rivalen anzugreifen und ihr Revier zu verteidigen, wie Krokodilbullen. Machen einen Mordslärm, wenn sie kämpfen, sie brüllen wie See-Elefanten. Wenn jemand hier eindringen will, hören wir das, kommen und retten den armen Tropf, dann geben wir ihm einen von Patience’ Vergessenstränken.«
»Was … was ist ein Kloakentier?«, fragte Lucinda ängstlich. Sie kauerte am äußersten Rand des Kutschbockes.
|56| »Das ist die Ordnung, zu der auch der Ameisenigel und das Schnabeltier gehören«, antwortete Gideon vergnügt. »Es sind die einzigen giftigen Säugetiere und die einzigen, die Eier legen. Aber
mein
Bunyip ist viel größer als jedes heutige Kloakentier und seit vielen tausend Jahren ausgestorben.«
Da erhob sich das Wesen in der Flussmitte einen Moment lang ein Stück weit aus dem Wasser. Es war groß wie ein Nilpferd, aber struppig, vielleicht sogar stachelig – die Silhouette erinnerte Tyler ein wenig an ein riesiges Stachelschwein –, und sein klobiger Kopf mit den großen Augen hatte vorn einen kurzen Rüssel mit wackelnden Fingern am Ende, der Ähnlichkeit mit der Schnauze eines Sternmulls hatte.
Lucinda kreischte entsetzt auf, und auch Tyler fuhr zusammen. Der Bunyip glitt wieder ins Wasser und schwamm wie eine flache Insel zurück auf die andere Seite, wo er im knackenden Schilf verschwand.
»Wow«, sagte Tyler.
»Das kannst du laut sagen«, erwiderte Gideon mit breitem Grinsen. »Fühlt ihr euch nicht schon beim Anblick dieses prachtvollen Tieres gleich viel sicherer?«
Sie ließen das Flüsschen hinter sich und bewegten sich am innersten Zaun entlang vom Farmhaus fort. Walkwell, der wie üblich den ganzen Vormittag nicht mehr als zwanzig Worte gesagt hatte, kniff plötzlich seine alterslosen braunen Augen zusammen und sagte streng zu Tyler und Lucinda: »Ihr müsst jetzt genau tun, was man euch sagt, Kinder. Denkt daran, auf dieser Farm gibt es Tiere, die jede Ungeduld mit Blut oder sogar Tod bestrafen können.«
»Ich weiß«, sagte Tyler. »Wir haben grade eins gesehen, oder?«
|57| Walkwell ignorierte seine Bemerkung. »Merke es dir gut: keinerlei Spiele, wo wir jetzt hinfahren, Tyler Jenkins.«
»He«, sagte Tyler, »ich kann total erwachsen sein, wenn’s darauf ankommt.«
Walkwell gab ein Knurren von sich, das nicht einmal in Tylers Ohren zustimmend klang. Lucinda war leichenblass geworden. Sie machte überhaupt seit dem Fluss keinen sehr entspannten Eindruck mehr. »Müssen wir dahin?«, fragte sie.
Gideon hatte sich seinen Hut gegen die Sonne tief ins Gesicht gezogen. Elf Uhr morgens, und es war schon richtig heiß. »Viele Leute würden sehr viel Geld dafür zahlen, um das zu sehen, was du gleich siehst. Wir
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