Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
ausgebrochen und waren jetzt Tag für Tag unermüdlich damit beschäftigt, den größten Wassertrog, den von Meseret, mit kleinen Steinen zu füllen. Einer nach dem andern kamen sie angeflogen und warfen unaufhörlich die Steinchen ab, plink, plink, plink, als ob jemand mit einem winzigen Hammer klopfte. Jeden Nachmittag stiegen Lucinda oder ihr Bruder in den Trog und fischten alle wieder heraus, aber die Jingwei konnten durch die Lücken in dem großen Stall ein und aus fliegen und fanden daher immer neue.
»Die alten Chinesen glaubten, dieser Vogel sei eine ertrunkene Prinzessin, die den Ozean zuzuschütten versucht, damit niemand mehr darin ertrinken kann«, erklärte ihnen Gideon und betrachtete dabei stirnrunzelnd eine ansteigende Steincheninsel an einem Ende des Trogs. »Ob mythisch oder nicht, ich wünschte, wir könnten sie aus dem Reptilienstall heraushalten. Sie sind wirklich lästig!« Aber die schönen, flinken Jingwei ließen sich nicht fangen, und so musste jeden Tag eines der Kinder in Meserets schmierigem Trog baden gehen |64| und die Steine hinausschaufeln, damit sie nicht zu viele verschluckte und sich eine Verstopfung zuzog. Solch kleine Steine spürte ein Drache nicht in seiner Speiseröhre.
Wenn die Fütterungszeit vorbei war, warteten noch viele andere Aufgaben. In ihrer zweiten Woche auf der Farm brachten Lucinda und ihr Bruder drei lange, heiße Nachmittage damit zu, einen neuen Stall für die Einhörner zu streichen. Fünf langbeinige, hornlose Fohlen waren in dem Frühjahr geboren worden, und Gideon wollte, dass die Jungen und ihre stillenden Mütter einen Platz hatten, wo sie vor den Sommergewittern sicher waren.
Natürlich sorgte auch Gideons stärkeres Sicherheitsdenken dafür, dass sie mehr als sonst zu tun hatten. Die elektrischen Tore und Zäune, die Fremde aus- und Tiere einschlossen, mussten regelmäßig auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüft werden. Selbst ein auf den Zaun gefallener Ast konnte einen großen Teil des Systems lahmlegen.
Lucinda freute sich, wieder auf der Tinkerfarm zu sein, aber die Arbeit war anstrengend, und sie war froh, als der Sonntag kam, ihr erster freier Tag seit ihrer Ankunft. Einmal vom frühen Eierdienst entbunden, hatte sie Mühe, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Nur die von Tyler überbrachte Drohung, wenn sie nicht innerhalb von zehn Minuten käme, gäbe es überhaupt kein Frühstück für sie, brachte sie schließlich nach unten, wo Azinza ihr Eier, einen Obstmuffin und ein Glas Milch vorsetzte. Sie hatte den Notizblock vergessen, auf dem sie Beobachtungen zur Drachenkommunikation festhalten wollte, und nachdem sie den Teller in die Küche gebracht hatte, trottete sie nach oben zurück, um ihn zu holen.
Als sie wenige Minuten später mit ihrem Notizblock auf |65| einer der Hintertreppen wieder hinunterging, hörte sie Stimmen in dem Zimmer mit den Bildern von Gideons Frau, dem »Grace-Tempel«, wie sie es für sich getauft hatte. Die erste Stimme war zweifellos Gideon, dann kam, leiser, aber genauso deutlich, die kühle Stimme von Patience Needle. Lucinda blieb stehen, und ihr Herz schlug auf einmal ganz schnell. Was machten die beiden in dem selten benutzten Raum? Und was war, wenn sie dachten, Lucinda würde ihnen nachspionieren? Im ersten Reflex wollte sie auf der Stelle umkehren.
Aber wieso eigentlich?,
dachte sie.
Ich hab doch gar nichts gemacht. Außerdem reden sie wahrscheinlich eh nur über Rechnungen oder so was.
Je näher sie der Zimmertür kam, umso langsamer ging sie. Ein bisschen neugierig war sie doch, was die beiden so weit abseits von allen anderen zu verhandeln hatten.
»… Ich bin
keineswegs
einverstanden, Gideon.« Das war Mrs. Needle, und ihre Stimme, die ärgerlicher klang als sonst, hatte einen harten, metallisch schrillen Ton. »Bei allem Respekt, du bist kein junger Mann mehr.«
»Ich kann dir versichern, Patience, dass mir das sehr viel bewusster ist als dir«, erwiderte Onkel Gideon ihr. »Derzeit haben sogar meine Wehwehchen schon ihre Wehwehchen. Du hast recht, mir bleibt wahrscheinlich nicht mehr allzu viel Zeit. Genau deswegen will ich es jetzt machen.«
Seine Worte und etwas in seinem Ton erschreckten Lucinda sehr. War Onkel Gideon krank? Todkrank? Er nervte sie manchmal, irritierte sie und erboste sie sogar, aber ohne ihn konnte sie sich den Hof nicht vorstellen.
Anscheinend ging es Mrs. Needle ähnlich. »Du bist nicht gefährdet, Gideon. Für einen Mann in deinem Alter bist du ausgesprochen gesund.
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