Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
verschlechterte er sich erst. Zweimal musste sie im Laufe des Abends in Carmens Zimmer getragen werden, um ihr die schweißnassen Kleider zu wechseln. Die meiste Zeit stöhnte sie und schlug um sich, sprach manchmal mit einem Tyler, der gar nicht da war (nicht mit dem Tyler, der neben ihr auf der Couch saß und sich um sie sorgte), dann wieder schien sie mit den Drachen zu sprechen. Einmal bat sie Desta sogar, ihr die Teetasse zu reichen. Und mehrmals schien sie mit jemand ganz anderem zu sprechen, der ihr furchtbare Angst einjagte. »Nein!«, sagte sie immer wieder. »Ich will nicht! Ich will nicht gehen!« In diesen Momenten konnte Tyler nicht mehr für sie tun, als ihr die schwitzende Hand zu halten.
Irgendwann endlich wurde Lucindas Haut ein wenig kühler und ihr Schlaf etwas ruhiger. Sie hörte auch auf, mit sich selbst zu sprechen. Mrs. Carrillo prüfte das Thermometer. »Unter achtunddreißig. Ich glaube, sie ist bald wieder gesund. Ihr Kinder, ab ins Bett! Steven, hol Tyler einen Schlafsack und eine Luftmatratze aus der Garage – und vergiss nicht, die Spinnen auszuschütteln!«
Tyler lachte. »Ich bin so müde, ich könnte in einem ganzen Nest von Spinnen schlafen.«
Oma Paz, die Silvia Carrillo geholfen hatte, seine Schwester zu versorgen, bekreuzigte sich hastig. »Sag so etwas nicht, damit bringst du den susto über dich.«
»Ein susto ist so was wie ein Fluch«, flüsterte Steve. »Wörtlich heißt es Schrecken.«
|214| »Auf jeden Fall werde ich deine Schwester abfegen müssen«, sagte Paz. »Dich vielleicht auch.«
»Und was heißt
das?«,
fragte Tyler flüsternd. »Ich will nicht ›abgefegt‹ werden.«
»Das ist nicht so schlimm«, beruhigte ihn Steve leise. »Du legst dich einfach hin, und sie schwenkt einen Besen über dir. Aber lass sie es ja nicht sehen, wenn du blutest. Ich bin mal in der Schule vom Klettergerüst gefallen und hab voll heftig am Bein geblutet, und da wollte sie mir Pulver von Klapperschlangen auf die Schrammen tun.«
Apropos, jetzt da es so aussah, als wäre Lucinda bald wieder auf dem Damm, spürte Tyler plötzlich seine eigenen Schrammen und blauen Flecken, die er sich in Alamus Nest zugezogen hatte: Er schien am ganzen Körper aufgescheuert oder sonst wie lädiert zu sein. Aber unter Wundheilmitteln verstand Tyler etwas anderes als irgendein Giftschlangenpulver. »Aha«, sagte er zu Steve. »Ist ja echt interessant, das mit deiner Großmutter und so. Vielleicht schlafe ich heute Nacht doch lieber im Garten.«
Das tat er natürlich nicht. Aus Sorge um seine Schwester wachte Tyler sogar mehrmals in der Nacht auf, aber jedes Mal, wenn er nach ihr schaute, schlief sie einigermaßen friedlich auf ihrer Couch, und im großen Sessel neben ihr döste entweder Oma Paz oder Mrs. Carrillo. Erst kurz vor Tagesanbruch konnte er endlich richtig einschlafen, aber seine Träume waren voll von Gestrüpp und spitzen Ecken und den Geräuschen von etwas Großem, das hinter ihm her war.
Tyler stand vor dem Haus der Carrillos und blickte über das Tal, aber die Tinkerfarm, die hinter den Hügeln lag, konnte er von hier aus nicht sehen. Lucinda, die sich zum ersten Mal seit |215| zwei Tagen stark genug gefühlt hatte, um von der Couch aufzustehen, stand neben ihm, in eine Decke gehüllt, obwohl es ein heißer Tag war.
»Ich sage dir, irgendetwas ist da in diesem Treibhaus, Tyler. Es war wie Rauch, oder wie … ach, ich weiß es nicht. Aber es ist in mich reingekrochen und hat mich krank gemacht.«
»Kann man sich doch vorstellen, dass diese Hexe da drin giftige Äpfel oder so was züchtet«, sagte Tyler. »Ein Glück, dass du überhaupt noch am Leben bist.«
»Es war aber nicht bloß Gift«, erwiderte seine Schwester und schlang die Decke fester um sich, weil sie zitterte. »Es war … als hätte es sich in mir festgesetzt. In meinem Kopf. Ich kann’s nicht erklären. Ein bisschen spüre ich es immer noch.«
»Sag das nicht so laut, sonst kommt Oma Paz wieder mit ihrem Besen an.« Tyler musterte sie kritisch. »Auf jeden Fall geht es dir besser, also lass gut sein.« Er hob einen Erdklumpen auf und warf ihn, so weit er konnte. »Das wahre Problem ist Colin Needle.«
»Ach, Tyler, so schlimm ist er gar nicht.«
Er fuhr herum. »Ist er
doch,
Lucinda. Ist er. Und er hat das Kontinuaskop, das weiß ich genau.«
»Na, ist doch gut, oder?« Sie war blass und schwach, noch nicht annähernd wieder sie selbst. »Es war so lange verschwunden, und Onkel Gideon braucht es unbedingt, um
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