Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
finsteren Blick zu. »Das ist das Alter.«
Kummer und Müdigkeit lag in Silvias Gesicht, als sie aufstand. »Genug für heute«, sagte sie. »Habt ihr alle vergessen, dass es höchste Zeit ist, die Kühe zu melken? Denen müssen bald die Euter platzen. An die Arbeit! Das Gespräch führen wir später weiter.« Aber sie sah aus, als hoffte sie, im ganzen Leben nicht mehr auf dieses Thema zurückkommen zu müssen.
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MR. KOTOS BRIEF
D ie Tage vergingen auf Cresta Sol, ohne dass sich die Situation veränderte. Aus Juli wurde August, das Ende der Sommerferien nahte, und immer noch durften Lucinda und Tyler Haus und Grund ihres Großonkels nicht betreten. Ragnar traf sich alle paar Tage mit Walkwell an der Grundstücksgrenze, aber dem alten Griechen zufolge gab es keine Verbesserung: Gideon Goldring kränkelte nach wie vor und tat weiter im Großen und Ganzen das, was Mrs. Needle ihm sagte. Sie duldete es nicht einmal, dass die Namen der Verstoßenen in seiner Gegenwart genannt wurden.
Ragnar schlief im Kuhstall der Carrillos und half ihnen bei der Landarbeit. Lucinda und Tyler verbrachten die Zeit mit den Kindern. Es machte Spaß, mit Carmen und den anderen |223| zu spielen, aber Lucinda kam es langsam so vor, als ob die alte Tinkerfarm ein Traum gewesen wäre und sie jetzt aufgewacht waren.
In der ganzen Zeit hätte ich mich mit Desta anfreunden und lernen können, wie man richtig mit Drachen redet,
dachte sie.
Ob irgendjemand ihr Möhren bringt? Die frisst sie so gern! Haneb muss viel zu tun haben, wo wir nicht mehr da sind, vor allem Ragnar. Ob er wohl dazu kommt, sich besonders um sie zu kümmern?
Tyler ließ sich neben Lucinda auf die Couch fallen. Er sah sich im leeren Wohnzimmer um, als ob sich hinter den Sofakissen Spione verstecken könnten, doch es war früh am Nachmittag und niemand im Haus, weil alle zu arbeiten hatten oder Besorgungen machen mussten. »Oma Paz – die weiß viel mehr, als sie sagt«, erklärte er in einem dramatischen Ton.
»Was du nicht sagst.«
»Was soll
das
jetzt heißen?«
Lucinda setzte sich vorsichtig auf. Ihr Kopf pochte noch manchmal, wenn sie sich zu schnell bewegte, doch ansonsten ging es ihr besser, obwohl sie nach wie vor keine Ahnung hatte, was ihr an jenem Tag im Garten zugestoßen war.
»Alle
hier wissen mehr, als sie sagen, außer uns Kindern. Das stinkt doch zum Himmel. Hier wimmelt’s nur so von Geheimnissen.«
»Ich werde jedenfalls rauskriegen, was sie verschweigt. Man sieht ihr an, dass sie darauf brennt, mal ordentlich auszupacken.«
Lucinda seufzte vernehmlich. »Und dann? Willst du auf Eliot der Seeschlange den Kumish Creek hochreiten und Handgranaten werfen, bis Colin Needle und seine Mutter sich ergeben?«
»Was ist denn in dich gefahren? Warum bist du so, Luce?«
Tränen traten ihr in die Augen. »Weil ich es satt habe, mir |224| ständig von dir erzählen zu lassen, was wir alles tun müssen. Wir sind
hilflos!
Ich wünschte, wir hätten niemals von dieser dämlichen Farm erfahren. Alles nur … Stress. Und gefährliche Monster. Ich will nach Hause.«
Tyler starrte sie an, als hätte sie gerade gefordert, Weihnachten sollte abgeschafft werden. »Du spinnst, Luce. Wir hatten doch ausgemacht, dass wir erst Ende des Sommers wieder nach Hause fahren, ganz egal, was passiert.«
»Ach, ich bin müde«, sagte sie. »Und mir geht’s immer noch dreckig.«
»Aber du liebst diese Drachen doch total und …«
»Du kapierst es nicht, Tyler. Ich will nicht mehr!
Es ist unmöglich!
Selbst die Erwachsenen kriegen es nicht hin – was sollen wir da machen? Wir sind Kinder!«
»Aber die Erwachsenen kriegen es ebendeshalb nicht hin,
weil
sie Erwachsene sind!«, schrie Tyler.
Lucinda verdrehte die Augen und sagte: »Ich leg mich ein bisschen schlafen.«
Tyler folgte ihr auf dem Flur bis zu Carmens Zimmer. Er war jetzt seinerseits aufgebracht. »Du willst also einfach aufgeben? Uns bleiben vom Sommer nur noch wenige Tage, mehr nicht. Und du willst, dass die Needles die Farm kriegen und alle Tiere und machen können, was sie wollen, und wir gehen derweil brav wieder nach Hause und in die
Schule?«
»Was sollen wir denn sonst tun?« Lucinda wusste, dass es gemein war, wie sie ihren kleinen Bruder abblitzen ließ. Sie verstand ja, dass er enttäuscht war. Aber sie war wirklich völlig erschöpft, der hartnäckige Erreger dieses merkwürdigen Fiebers steckte noch immer tief in ihrem Körper. Mit letzter Kraft taumelte sie ins Bett.
|225| Als Lucinda
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