Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
aufwachte, war der Nachmittag fast vorbei. Das Laken klebte ihr an der verschwitzten Haut, und die Luft im Haus der Carrillos war heiß und drückend. Sie wollte duschen, aber dazu musste sie hinterher frische Sachen anziehen, sonst konnte sie sich das Duschen sparen. Sie durchwühlte ihren Koffer nach Strümpfen und Unterwäsche, die noch nicht getragen waren, bis sie ihn völlig ausgeleert hatte, aber etwas Sauberes fand sie trotzdem nicht. Wegen ihrer Krankheit hatte sie alles schleifen lassen, aber jetzt sah es so aus, als müsste sie entweder mit Silvias Waschmaschine umgehen lernen oder schmutzige Sachen tragen. Sie fing an, in den diversen Seitentaschen des Koffers zu stöbern, weil sie hoffte, dass sich wenigstens eine saubere Unterhose dorthin verirrt hatte. Zu ihrer Überraschung fand sie in einer tatsächlich etwas, aber eine Unterhose war es nicht.
Sie zog das vergilbte alte Kuvert mit der Briefmarke aus Madagaskar hervor. Es war der Brief, den sie damals in ihrer ersten Nacht auf der Farm in der Hand gehabt hatte, als Mrs. Needle in ihr Zimmer geplatzt war, in der Nacht, als Tyler die an Grace Goldring adressierte Kiste fand. Lucinda hatte damals noch schnell versucht, die ganzen auf den Boden gefallenen Briefe aufzuraffen, aber da hatte Mrs. Needle sie bereits ertappt. Der hier musste unter das Bett gerutscht sein, und Pema und Azinza hatten ihn beim Kofferpacken gefunden und einfach dazugesteckt.
Sie setzte sich aufs Bett. Das Kuvert war noch zugeklebt – der Brief war niemals geöffnet worden, und Grace hatte ihn niemals gelesen, was eine merkwürdige Vorstellung war. Hatte der Absender sich gewundert, dass sie niemals geantwortet hatte? Unwillkürlich versuchte Lucinda sich vorzustellen, wie Dr. Grace Goldring wohl in Wirklichkeit gewesen war. Auf den vielen Bildern im Gedenkzimmer sah sie sehr ruhig, |226| sehr hübsch, sehr klug aus – genau so, wie Lucinda als erwachsene Frau einmal sein wollte. Und jetzt hielt sie einen ungeöffneten Brief an diese Frau in der Hand, geschickt aus einem fernen Land und aufbewahrt in einer Kiste mit biologischen Proben aus Madagaskar. Sie hielt ihn ans Licht, um die inzwischen verblasste Schrift zu entziffern.
13. Juli 1989
, lautete der Poststempel, der Absender war ein gewisser Fabien Koto.
Ihr Herz schlug schneller, als sie das Kuvert vorsichtig mit einer Schere von Carmens ordentlich aufgeräumtem Schreibtisch aufschlitzte und das gelbliche Papier herauszog. Der Brief war in Maschinenschrift, aber dem Aussehen nach zu urteilen, war er nicht auf einem Computer, sondern auf einer Schreibmaschine geschrieben worden.
Liebe Frau Dr. Goldring,
Ich sende Ihnen meine besten Wünsche! Das Wetter hier ist gut. Antananarivo ist im Frühling eine sehr schöne Stadt, und ich hoffe, dass Sie und Ihr Mann uns eines Tages einmal besuchen kommen. Es wäre mir eine große Freude, Ihnen alles zu zeigen. Einstweilen sende ich Ihnen die Ausbeute meines letzten Marktbesuchs. Der Fund des Chamaeleo belalandaensis wäre sehr viel spektakulärer gewesen, wenn es noch gelebt hätte, doch selbst die toten bekommt man heutzutage selten zu Gesicht, und dieses ist gut getrocknet und hoffentlich nicht zu unappetitlich.
Sie hatten recht damit, dass es die Bewohner der südwestlichen Küsten sind, die die merkwürdigsten Entdeckungen machen, häufig Dinge, die an Baumstämmen oder Wurzelwerk im Meer treiben. Ich befürchte, ich verstehe nicht ganz, warum Ihrer Meinung nach genau dieser eine bestimmte Fleck in Moromboke im Hinblick auf biologische Anomalien und Entwicklungen so ergiebig sein soll, aber ich berichte Ihnen sehr gern über die Erfolge
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meiner Forschungsarbeit. Will sagen, dass ich in der Tat von der Vielfalt neuer botanischer Arten überwältigt bin. Viele davon lasse ich Ihnen hiermit zukommen.
Ich habe allerdings das unbestimmte Gefühl, dass nicht alle madagassischen Ursprungs sind. Das Sichten und Identifizieren des vorliegenden Materials wird Zeit und Arbeit kosten. Ich möchte jedoch Ihre Aufmerksamkeit auf das Prachtexemplar dieser Auswahl lenken (soweit ich das beurteilen kann). Es ist ein Fungus, wie ich noch nie einen gesehen habe. Ich habe Ihnen ein kleines Stück beigelegt, aber in einem sicheren Reagenzglas. Auch dieser Pilz ist nicht auf Madagaskar heimisch, aber über die Jahre sind so viele an den hiesigen Küsten gelandet, dass die Mikea-Stämme ihn in ihre Mythenwelt aufgenommen und ihm einen Namen gegeben haben, der sich am besten mit
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