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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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können wir nicht viel anfangen.»
    Hinter den dünnen Vorhängen trommelte der Regen gegen die Scheibe. Abby erinnerte sich an einen anderen nassen Tag in einer anderen Stadt am Rand des alten römischen Imperiums. Die Analyse ist nicht vollständig.
    «Was, wenn mehr dahintersteckt?», fragte sie. «Gruber doktert noch daran herum. Vielleicht finden sich weitere Hinweise.»
    Michael fuhr auf dem Absatz herum. Seine Augen leuchteten.
    «Warte hier.»
    Er warf sich seinen Mantel über und eilte zur Tür.
    «Wohin willst du?»
    «Anrufen.» Er drohte ihr lächelnd mit dem Finger. «Mach keinem Fremden die Tür auf.»
    Sie war zwölf Minuten allein, aber es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Der alte gusseiserne Heizkörper klapperte und gurgelte. Die unheimlichen Geräusche setzten ihr zu. Sie starrte unverwandt auf die Tür und hielt immer wieder die Luft an. Ihr Herz raste. Als Michael endlich zurückkehrte, fiel sie vor Erleichterung fast in Ohnmacht.
    Er triumphierte.
    «Dr. Gruber wird gleich morgen früh nach Belgrad fliegen und eine Kopie der Schriftrolle mitbringen. Und das, was er inzwischen herausgefunden hat.»
    «Mehr über das Gedicht?»
    «So scheint es.»
    «Hätte er das nicht schon am Telefon sagen können?»
    «Doch.» Michael grinste verschlagen. «Aber dann hätte er nicht sicher sein können, ob er die hunderttausend Euro tatsächlich bekommt, auf die er sich jetzt Hoffnungen macht.»

    Für Abby war es die längste Nacht ihres Lebens. Sie lag in ihren Kleidern unter der Decke – aus Angst hatte sie sich nicht ausgezogen. Die ganze Stadt schien aus Teilen zusammengesetzt zu sein, die ständig gegeneinanderprallten. Die Heizung klapperte, der Fahrstuhl krachte, und unten auf der Straße dröhnten Autos und Straßenbahnen. Einmal glaubte sie in der Ferne Schüsse zu hören, aber vielleicht waren es nur Fehlzündungen. Danach lauschte sie angestrengt eine halbe Stunde lang in banger Erwartung, dass es wieder knallte.
    Michael schien mit dem Lärm keine Probleme zu haben. Er schlief tief und fest und schnarchte leise. Als sie es nicht länger aushielt, zog sie den Radiowecker aus der Steckdose, ging damit ins Badezimmer und versuchte, mit Rockmusik die Geräusche der Nacht zu übertönen. Rote Ziffern gaben blinkend die Zeit an und spotteten ihrer Hoffnung, endlich einschlafen zu können. In der Badewanne mit einem Kissen im Nacken und unter einer grauen Wolldecke nickte sie dann doch ein.

    Mit steifem Hals und Kopfschmerzen wachte sie auf. Michael stand in der Badezimmertür, nackt bis auf seine Boxershorts.
    «Ich dachte, du wärst fort.» Vielleicht hatte er doch nicht so gut geschlafen wie angenommen. Seine Augen waren gerötet, die Falten ringsum wirkten nicht mehr interessant, sondern zeigten vielmehr, wie müde er war. Die Stoppeln im Gesicht waren zu lang, aber noch nicht lang genug für einen Bart.
    «Ich konnte nicht schlafen.»
    «Schlechtes Gewissen.» Er lächelte, um anzudeuten, dass sein Kommentar als Scherz zu verstehen war. «Ich habe einen Bärenhunger.»
    Der Zimmerpreis bei Giacomo war ohne Frühstück. Sie gingen in ein Café auf der anderen Straßenseite und bestellten Omelettes und Kaffee. Immerhin war dieser nach osmanischer Tradition tiefschwarz.
    «Hast du tatsächlich hunderttausend Euro zur Verfügung?»
    Michael teilte sein Omelett. «Mach dir darüber keine Gedanken.»
    «Wann will Gruber hier sein?»
    «Gegen Mittag. Wir treffen uns an der Burg.»
    «Wie kafkaesk.»
    Sie aß und schwieg. Michael bat den Kellner, Kaffee nachzuschenken.
    «Ich verspreche mir mehr von dem Gedicht», sagte sie endlich. «Als Giacomo sagte, die Antwort läge in uns, wusste er nichts von den zwei zusätzlichen Zeilen.»
    Michael nahm den zerknitterten Zettel zur Hand und glättete ihn auf der Tischplatte. Er las die englische Übersetzung, versuchte sich dann am lateinischen Text und bewegte die Lippen stumm.
    «Das sind böhmische Dörfer für mich», sagte er.
    «Ich dachte, du hättest Latein in der Schule gehabt.»
    «In Latein bin ich durchgefallen.»
    «Dann sollten wir jemanden finden, der es kann.»

    Der Studentski Trg – Studentenplatz – lag an der Flussbiegung in der Nähe der Zitadelle. Er war nicht viel größer als ein Fußballfeld, mit ein paar Bäumen bestückt und von dem üblichen Mix aus neoklassizistischen und paleo-sozialistischen Gebäuden umringt, in denen ein Teil der Universität von Belgrad untergebracht war. Im Park verteilten sich etliche Statuen; die der

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