Die Geheimnisse der Toten
kommunistischen Helden hatte man gegen Gestalten aus einer weniger geschmähten Vergangenheit ausgetauscht. Aus den Plänen, den Park mit anderen Parks zu einem durch die Innenstadt führenden Grünstreifen zusammenzulegen, war nichts geworden. Inzwischen diente er vor allem als Bus-Terminal.
Sie fanden die Fakultät für Philosophie und Philologie in einem ansehnlichen, altrosa und grau gestrichenen Gebäude auf der Südseite des Platzes. Nach fünf Minuten Recherche in einem Internetcafé hatten sie den Namen eines möglichen Ansprechpartners ermittelt. Michaels Charme und Abbys Serbokroatisch öffneten ihnen die Tür und führten sie in ein kleines Büro. Akten stapelten sich in Metallregalen. An der freien Wand hing eine lädierte Landkarte des römischen Reichs zu seiner Blütezeit. Auf dem Fensterbrett streckte zwischen Topfpflanzen eine grüne Terrakottabüste ihren Kopf hervor: ein rundgesichtiger Mann mit vorstehendem Kinn, flachen Wangen und nach oben gerichtetem Blick. Die Miene wirkte verkrampft, jeder Gesichtsmuskel schien Macht und Stärke zum Ausdruck bringen zu wollen.
Der Inhaber des Büros – Dr. Adrian Nikolić – war sehr viel milder gestimmt, ein mittelgroßer Mann mit braunem Bart, braunen, lockigen Haaren und braunen Augen, die freundlich lächelten. Er trug über einem karierten Hemd einen Pringle-Pullunder, eine braune Kordhose und Schnürstiefel.
«Danke, dass Sie uns empfangen», sagte Abby auf Serbisch.
Er nickte und zeigte sich angenehm überrascht, dass sie seine Sprache sprach. In einem kleinen Land mit schlechtem Ruf war das nicht selbstverständlich. Er musterte, wie sie bemerkte, ihre blauen Flecken im Gesicht, sagte aber nichts.
«Dass man mich im Ausland kennt, ist mir neu. Vielleicht sollte ich eine Gehaltserhöhung beantragen.» Er drehte sich langsam auf seinem Sessel herum, deutete auf eine durchgesessene Couch und bat sie, Platz zu nehmen. «Ich habe in fünfzehn Minuten ein Seminar. Bis dahin hätte ich Zeit für Sie. Wie kann ich helfen?»
Abby reichte ihm den Zettel mit dem Gedicht und seiner Übersetzung. «Das ist uns zufällig in die Hände geraten.»
«In die Hände geraten?»
«Die Sache ist ein bisschen komplizierter.»
Er nickte. «Wir sind hier auf dem Balkan. Manches gerät einem in die Hände, anderes geht verloren. Wir haben gelernt, keine Fragen zu stellen.»
Aus der Schreibtischschublade holte er eine Schildpattbrille, setzte sie auf und las das Gedicht.
«Sie haben es ja schon übersetzt. Was könnte ich Ihnen sonst noch dazu sagen?»
«Alles, was ihnen dazu einfällt.»
Er lachte heiser. «Alles?»
«Wir haben erfahren, dass das Gedicht in der Regierungszeit Konstantins des Großen entstanden sein könnte.»
«Und deshalb sind Sie auf mich gekommen.» Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Büste auf dem Fensterbrett. «Wussten Sie, dass er in Niš zur Welt kam? Meiner Heimatstadt.»
Abby holte tief Luft. «Es klingt vielleicht verrückt, aber wir glauben, das Gedicht steht vielleicht im Zusammenhang mit einem verschollenen Schatz oder einem Artefakt. Vielleicht hat es etwas mit der Herrschaft Konstantins zu tun.»
Nikolić blickte ihr geradewegs in die Augen, ohne sich irgendetwas anmerken zu lassen.
«Sie haben absolut recht.»
«Wirklich?»
«Was Sie hier vortragen, klingt in der Tat verrückt. Sie kommen in mein Büro, zeigen mir ein Stück Papier und wollen sich von mir bestätigen lassen, dass es auf einen verschollenen Schatz hinweist. Mit Verlaub, das finde ich einigermaßen befremdlich.» Er stand auf. «Ich kann Ihnen nicht helfen.»
Abby und Michael blieben sitzen.
«Wenn Sie an der Echtheit des Gedichts zweifeln, kann ich Sie beruhigen», sagte Michael.
«Haben Sie das Original?» Michael nickte. «Wenn Sie es mir vorlegen, könnte ich mir ein Bild machen. Übrigens, von welcher Institution sind Sie eigentlich?»
«Wir arbeiten für die EU.» Michael zog seinen EULEX-Ausweis aus der Brieftasche. «Ich gehöre zur Leitung der Zollbehörde. Wir ermitteln gegen einen Kunsträuberring und haben unter beschlagnahmten Antiquitäten einen Stein mit dieser Inschrift gefunden.»
Nikolić stand immer noch. Er nahm den Zettel in die Hand und las.
«Dieses Wort signum , wissen Sie, was es bedeutet?»
«Zeichen», antwortete Michael. «‹Rettungszeichen, das den Weg dorthin illuminiert.›»
«Ja, es war ein ganz besonderes Wort zu Lebzeiten Konstantins. Vor der großen Schlacht an der Milvischen Brücke sah er angeblich ein
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