Die Geheimnisse der Toten
behauptet, dass die halbe Christenheit nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Die andere Hälfte eilt ihm zu Hilfe, und plötzlich führt die Kirche Krieg gegen sich selbst.
«Ich habe mich zwanzig Jahre lang bemüht, das Reich zu vereinen, damit die Christen in Frieden leben können», lamentiert Konstantin. «Und kaum habe ich es geschafft, wollen sie es wieder auseinanderreißen.»
Was hast du anderes erwartet? , möchte ich ihn fragen.
Im Krieg drängt es Konstantin immer zur Entscheidungsschlacht. Die gleiche Strategie versucht er auf die Kirche anzuwenden: Er zitiert die Kontrahenten an seinen Palast in Nicäa. Dort sollen sie miteinander streiten. Am Ende wird er entscheiden, wer gewonnen hat, und von allen anderen verlangen, dass sie den Sieger anerkennen.
«Die Frage ist so trivial, dass sie keine Auseinandersetzung verdient», sagt er hoffnungsvoll. «Ich bin sicher, wir werden den Streit in Ruhe beilegen können.»
Der Palast liegt an einem Seeufer und ist nach Westen ausgerichtet. Nicäa ist eine kleine Stadt zwischen fruchtbaren Hügeln. Die zahllosen Christengesandten, die aus dem ganzen Reich zusammengekommen sind, passen kaum zwischen ihre Mauern: zweihundertfünfzig Bischöfe, doppelt so viele Priester und Presbyter, dazu das ganze Gefolge und Gepäck. Es gibt nur einen Raum, der groß genug ist: die Halle des Palastes, in die Tischler links und rechts aufsteigende Bankreihen eingebaut haben. Zur Eröffnung des Konzils beziehen die Bischöfe ihre Sitzplätze wie Zuschauer im Hippodrom.
Für die meisten – vor allem für die Bischöfe des Ostens, die erst seit kurzem dem Kaiser unterstehen – ist es das erste Mal, dass sie Konstantin zu Gesicht bekommen. Er macht großen Eindruck auf sie. Alles erhebt sich, als er in einer purpurnen Robe die Halle betritt. Die Seide schimmert wie Wasser im Sonnenlicht, und die kostbaren, ins Tuch eingenähten Edelsteine besprenkeln den Boden mit Farbe. Feierlich schreitet er durch ein Spalier geneigter Häupter und gefalteter Hände auf das Podest zu, auf dem ein goldener kurulischer Stuhl, der sonst nur Richtern vorbehalten ist, für ihn bereitsteht.
Er wendet sich den Bischöfen zu, zeigt auf den Stuhl und sagt: «Mit eurer Erlaubnis.»
Die Versammelten sind so schockiert, dass sie fast vergessen, ihre Zustimmung zu murmeln. Ein Kaiser hat sie noch nie um etwas gebeten. Konstantin nimmt Platz. Die Bischöfe setzen sich. Eusebius, der auf der rechten Seite dem Kaiser am nächsten sitzt, dankt Gott für Konstantins Weisheit und Wohlwollen. Konstantin hält eine Rede zur Antwort. «Befreit euch von den Fesseln des Disputs», rät er den Männern, «und lebt in der Freiheit der Gesetze des Friedens. So will es Gott – und ich auch.»
Er lässt den Blick durch die Halle schweifen, um sich zu vergewissern, dass man ihn verstanden hat. Zweihundertfünfzig Häupter verneigen sich demütig.
Doch zwei Wochen später ist alles beim Alten. Zu Konstantins Überraschung stellt sich heraus, dass Christen ebenso unaufrichtig und verschlagen sind wie alle anderen. Das Konzil hat ihr Denken nicht etwa auf die göttliche Einheit gerichtet, sondern auf ihre giftigen Ränke. Nichts wurde erreicht.
Wir treffen uns bei Sonnenuntergang in Konstantins Schlafgemach. Draußen vorm Fenster klatschen die Wellen ans Fundament. Die Bischöfe feiern einen ihrer ewig langen Gottesdienste. Wir können sicher sein, dass uns niemand belauscht, denn sogar die Palastdiener haben Ausgang. Nur Crispus und ich sind anwesend, die beiden einzigen Männer, denen Konstantin vertraut.
Er platzt zur Tür herein. Er stößt Türen immer mit voller Wucht auf, wenn er sie denn öffnen muss. Meist werden sie ihm geöffnet. Ein Schreiber eilt hinter ihm her. Er trägt jede Menge Schriftrollen wie Feuerholz auf den Armen.
«Leg sie hier ab.» Konstantin zeigt auf ein Bett, das neben mir steht. Der Schreiber gehorcht, verbeugt sich und geht. Konstantin rollt ein Pergament auseinander und versucht zu lesen, wobei sich seine Lippen bewegen. Ich frage mich, ob die Christen absichtlich auf Griechisch schreiben, um ihn zu ärgern.
«‹Von der Kirche in Alexandria an Konstantin, Augustus, Cäsar und so weiter. Da ruchbar geworden ist, dass Eustathius, Bischof von Antiochia, mit Prostituierten und unkeuschen Weibern verkehrt, bitten wir Euch inständig, seine Wahl für nichtig zu erklären, damit wir einen rechtschaffenen, gottesfürchtigen Mann an seine Stelle setzen können …›» Er wirft das
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