Die Geheimnisse der Toten
Lampe zittert in meiner Hand. Ich stelle mir vor, sie würde in einen der Körbe fallen und das Papyrus in Brand setzen. Umso fester halte ich die Lampe gepackt.
Vorsichtig tappe ich den Gang entlang. Sooft meine Schulter einen der Körbe streift, wirbelt Staub auf. Sie haben alle einen Deckel und werden von einem versiegelten Band geschlossen gehalten. Die meisten Wachssiegel sind spröde und bröckelig. Eines aber glänzt wie neu. Die Prägung ist noch scharf konturiert. Der dunkle Fleck gleich daneben zeigt, wo das alte Siegel gesessen hat. Ein mit Zwirn festgeschnürtes Tonplättchen weist den Inhalt als diplomatische Korrespondenz aus dem zwanzigsten Jahr der Regierung Konstantins aus.
Ich schaue mich weiter um und bemerke, dass an fünf weiteren Körben das Siegel ausgetauscht wurde. Alle datieren aus demselben Jahr 20 oder dem Jahr davor.
Ich weiß, was während der Vicennalien geschehen ist. Ich hole den ersten Korb aus dem Regal und setze ihn neben meiner Lampe auf dem Boden ab. Es gibt keinen Grund für mich, ihn in den Lesesaal zu schleppen. Wenn ich dieses dunkle Labyrinth verlasse, werde ich nicht noch einmal zurückkehren.
Ich setze mich auf den Boden und fange an zu lesen. Auf fast jeder Seite ist Alexanders Urheberschaft unverkennbar. Manche Passagen wurden herausgeschnitten und der Rest so sorgfältig zusammengefügt, dass es kaum auffällt. Andere Eingriffe sind offensichtlich. Es fehlen ganze Abschnitte, Sätze und manchmal auch nur einzelne Wörter. Wenn ich das Papyrus vors Licht halte, sieht es aus wie von Würmern angefressen.
Aber ich weiß die Leerstellen zu füllen.
Aquileia, Italien – April 326, elf Jahre zuvor
Von dem Augenblick an, da wir Aquileia erreichen, läuft alles schief.
Eigentlich müsste es ein freudvoller Moment sein, Frühling im Reich. Wir sind auf dem Weg nach Rom zum Höhepunkt der Vicennalien-Feierlichkeiten. Sie sind, wie alle wissen, mehr als bloß ein Fest seiner Herrschaft. Der letzte Kaiser, der zwanzig Jahre regierte, war Diokletian, der das Jubiläum zum Anlass nahm, seinen Rücktritt anzukündigen und seine Nachfolger zu bestimmen. Konstantin ist nun älter als sein Vater, als er starb. Crispus ist in den besten Jahren. Konstantin hat sich zu diesem Thema noch nicht geäußert, nicht einmal mir gegenüber. Aber ich war in Nicäa dabei. Wir werden das Imperium nach Gottes Bild neu schaffen. Ein Gott, ein Herrscher, ein Friede – und er hält Wort. Seit Chrysopolis rücken seine Streitkräfte nicht mehr aus.
Crispus wartet in Aquileia auf unseren Tross, um uns auf der letzten Etappe nach Rom zu begleiten. Seit Stunden ziehen dunkle Wolken auf. Als wir in die Stadt einziehen, bricht ein Unwetter los. Prasselnder Regen zerfleddert den Blumenschmuck der Grabstätten entlang der Straße und durchnässt die wartenden Würdenträger. Crispus, der schon vor zwei Tagen angekommen ist, tritt vor, um seine vorbereitete Rede zu halten, die aber im Donnergrollen untergeht.
«Halt’s Maul und mach den Weg frei!», brüllt Konstantin so laut, dass alle seine Worte hören. Crispus läuft puterrot an. Als wir den Palast erreichen, ist das ganze Gepäck durchweicht und die Nerven liegen bloß.
«Was ist das nur für ein Sohn, der seinen Vater im Kalten warten lässt?», sagt Fausta, in einen schweren Pelzmantel gehüllt. Sie schleicht durch den dunklen Raum wie ein Wolf in seinem Käfig. «Und das in deinem Alter. Unser armer Claudius» – ihr ältester Sohn – «niest unaufhörlich. Sein Lehrer meint, er hat Fieber.»
«Ich sollte ihn vielleicht nach Britannien schicken», sagt Konstantin. «Ein Winter in York, und er gewöhnt sich daran, nass zu werden.»
«So, wie sich dein Vater daran gewöhnt hat.»
Konstantin eilt auf sie zu. Ich fürchte, er wird sie über den Haufen rennen. Doch er breitet die Arme aus, und es scheint, er will sie um seine Frau schlingen und sie in die Höhe heben. Fausta aber grinst verächtlich und voller Genugtuung. Sie hat ihm eine Reaktion entlockt. Auf mehr kann sie in ihrem Alter nicht hoffen.
Konstantin zieht seine Hände zurück. Vielleicht kann er es nicht ertragen, sie zu berühren. Vielleicht will er es nicht. Fausta ist Tochter und Weib von Kaisern, eine Frau, die wie Konstantin einen Nimbus ausstrahlt. Aber während der ihres Gatten golden ist, ist der ihre rabenschwarz.
Konstantin dreht sich abrupt um. «Gib mir nicht die Schuld daran, dass dein schmächtiger Sohn kränkelt!», schnauzt er und stürmt aus dem Raum.
Ihr
Weitere Kostenlose Bücher