Die Geheimnisse der Toten
abrupt die Stadt endete.
Nikolić behielt die Straße im Blick.
«Sie wollten raus aus Belgrad. Wir sind draußen. Was nun?»
Abby musterte die Plastikhülle, die auf ihrem Schoß lag. «Wir würden uns gern irgendwo ungestört mit Ihnen unterhalten.»
Nikolić bog in eine Lukoil-Tankstelle kurz hinter der Flughafenausfahrt ein. Es gab dort einen Minimarkt und ein kleines Café, wo sie an einem Plastiktisch öligen Kaffee aus Plastikbechern schlürften. Papierunterlagen warben für Fastfood und boten Kindern Ablenkung mit Rätselfragen.
«Ich möchte gar nicht wissen, was Sie vorhaben», erklärte Nikolić. «Wenn ich von der Polizei vernommen werde, werde ich sagen, dass Sie mich mit vorgehaltener Pistole gezwungen haben, Sie zu fahren.»
«Verständlich», entgegnete Abby. Falls sie der Polizei in die Hände fielen, würde Nikolić’ Aussage ihre geringste Sorge sein.
«Zeigen Sie mir das Dokument noch einmal.»
Abby reichte ihm die Hülle. Er verteilte die Seiten auf dem Tisch – vier Blätter voll unscharfer Zeichen, dazu zwei von Gruber getippte Transkriptionen.
Die Lebenden erreicht, wer die Toten navigiert,
wo jenseits aller Schatten hell die Sonne brennt,
Rettungszeichen, das den Weg dorthin illuminiert
mit unbesiegtem Glanz im Lebensorient.
Abby konnte die lateinischen Zeilen mitlesen. Und da stand ein weiterer Vers. Nikolić ließ sich ein paar Minuten Zeit und übersetzte dann zögernd:
Vom Garten hin zur Felsenkluft
gab der Vater trauernd seinen Sohn
und legte ihn in eine hohle Gruft,
Trophäe seiner Siege Lohn.
Abby und Michael schauten einander verwundert an. Ihnen war bewusst, dass sie Worte hörten, die seit siebzehn Jahrhunderten nicht mehr gelesen worden waren.
«‹Die Trophäe seiner Siege Lohn›», wiederholte Michael. «Sie sagten, Trophäe sei ein anderes Wort für das labarum – die Kriegsstandarte.»
«Ja, das könnte damit zusammenhängen.»
Michael bat Nikolić, seine Übersetzung langsam zu wiederholen, und schrieb mit. Er runzelte die Stirn. «Von der Trophäe abgesehen, gibt der Text nicht viel her.»
«Fällt Ihnen an dem Gedicht irgendetwas auf?», fragte Abby.
Nikolić schaute ihr ins Gesicht. «Ich könnte Ihnen vielleicht den Namen des Dichters nennen.»
Er hatte sichtlich Spaß an ihrem Erstaunen und lächelte, ungeachtet der brenzligen Lage, in der sie sich befanden.
«Es wurde geschrieben von einem römischen Politiker und Poeten namens Publilius Optatianus Porfyrius.»
«Woher wollen Sie das wissen?»
«Auf der Schriftrolle ist weiter unten eine Liste von Namen angeführt.» Er deutete auf die Stelle von Grubers Transkription. «Allein das macht dieses Stück Pergament zu einem sehr wertvollen Fund. Eusebius von Nikomedia war in der Zeit Konstantins ein berüchtigter Bischof. Aurelius Symmachus war ein eher unbedeutender Philosoph, hat sich aber während der Christenverfolgung einen Namen gemacht, und Asterius Sophistes war ein streitbarer Theologe. Und dann steht da noch der Name Porfyrius. Er war ein Poet, der sehr unkonventionell und in Rätseln dichtete.»
Wegen der vielen fremden und komplizierten Namen drängte sich Abby der Vergleich mit einem russischen Roman auf.
«Haben Sie von all diesen Männern schon gehört?»
«Das bleibt nicht aus, wenn sich ein Forscher wie ich mit der Zeit Konstantins beschäftigt.»
«Porfyrius war also Poet», wiederholte Michael.
«Seine Gedichte nennt man Technopaignia. Es waren Rätsel zur Unterhaltung des Kaisers. Alle, die uns erhalten geblieben sind, enthalten geheime Botschaften.»
Sein Lächeln hatte sich in ein komisches Grinsen verwandelt.
«Wollen Sie uns einen Bären aufbinden?», fragte Michael. «Heute Morgen haben Sie uns noch fast ausgelacht, als wir die Vermutung äußerten, das Gedicht könnte ein Hinweis auf einen Schatz sein. Jetzt behaupten sie, der Kerl, der diese Zeilen verfasst hat, sei berühmt dafür gewesen, geheime Botschaften in Gedichtform zu packen.»
Das Lächeln verschwand. Auf Nikolić’ Gesicht machte sich der Stress bemerkbar, unter dem sie alle standen.
«Genaues weiß ich nicht, okay? Wir sehen ein Gedicht und den Namen eines Dichters, der für seine kryptische Poesie bekannt ist. Dass diese Zeilen hier eine geheime Botschaft enthalten, haben Sie behauptet. Ich habe nur eine halbwegs plausible Erklärung abzugeben versucht. Aber vielleicht irre ich mich.» Er fuhr mit der Hand über den Tisch und schob die Papiere beiseite. «Vielleicht hat Ihr deutscher Freund das
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