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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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haben, um seinen Zauber an dir zu bewirken.»
    «Ich habe dieses schreckliche Ding nie berührt», empört sich Crispus, der vor lauter Verachtung alle Furcht vergessen zu haben scheint – für den Moment.
    Konstantins Gesichtsausdruck macht mir Angst. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er verloren aus.
    «Was ist nun wahr?», murmelt er. «Dass mich mein eigener Sohn zu stürzen versucht hat, obwohl ich ihm alle Macht und Herrlichkeit gewähren wollte? Oder dass meine Gattin die schlimmsten Lügen und Gemeinheiten verbreitet?»
    «Wie kannst du leugnen, was du da mit eigenen Augen vor dir siehst?» Faustas Stimme schrillt hysterisch. «Glaubst du es erst, wenn all unsere Kinder tot sind?»
    «Ich soll glauben, dass mein Erbe ein Mörder ist?»
    Fausta breitet die Arme um ihre Kinder.
    «Ich bringe deine Söhne zurück nach Konstantinopel. Sie werden keine Stunde länger mit diesem Monstrum unter einem Dach leben.» Mit wütenden Blicken durchquert sie den Raum. Sie ist einen Kopf kleiner als Konstantin, wirkt jetzt aber nicht minder groß. Und er schrumpft. Er weiß nicht, was er machen soll. Er ist gekommen, um zu triumphieren, und steht nun vor einem Scherbenhaufen.
    Junius tritt vor. «Darf ich …»
    Konstantin nickt.
    «Es gibt eine Villa in Pula, einen Dreitageritt von hier entfernt. Ihr Eigentümer ist ein loyaler Mann. Dort könnte Crispus wohnen, bis sich alles aufgeklärt hat.»
    «Nein.» Crispus’ Stimme klingt unnatürlich hoch. «Ich will bleiben und meine Unschuld beweisen.»
    «Wenn er bleibt, gehe ich», sagt Fausta.
    Beide blicken auf Konstantin, der zwischen ihnen hindurch auf einen Punkt an der Wand starrt. Seine Miene verrät nichts. Alles, das Geschick der ganzen Welt, hängt nun von seiner Entscheidung ab.
    Ich erinnere mich an einen Ausspruch von Crispus, den er in Nicäa von sich gegeben hat. Sie brauchen einen Richter. Er hat wohl nicht damit gerechnet, so bald selbst auf der Anklagebank zu sitzen.
    Konstantin entscheidet. Eine kleine Kopfbewegung reicht, und alle wissen, wie sein Urteil lautet. Fausta verbeugt sich. Vier weiß gekleidete Wachen führen Crispus aus dem Raum. Er wehrt sich nicht.
    «Ich werde jemanden schicken», sagt Konstantin, aber seine Stimme ist so leise, dass Crispus ihn wohl kaum gehört hat.

Konstantinopel – Mai 337
    Der Lampe geht allmählich das Öl aus. Ich sitze im Schneidersitz auf dem Boden des Archivs, umringt von Dokumenten. Es sind so viele, dass sie sich im Dunkeln verlieren. Alexander hat gründliche Arbeit geleistet. Ich lese seit über einer Stunde, habe aber noch keinen Beleg dafür gefunden, dass Crispus und Fausta in Aquileia waren. Oder dass sie überhaupt existiert haben.
    Ich gebe mich geschlagen, sammle die Unterlagen ein und stopfe sie wie Abfall zurück in die Körbe. Mühsam stehe ich auf. Schwindel ergreift mich. Ich wanke, halte aber die Lampe fest gepackt. Wenn sie mir aus der Hand fällt und erlischt, bin ich im Dunkeln verloren. Ich versuche, mit meinem Blick Halt an einem fixen Punkt zu finden. Vergeblich. Die Regale erstrecken sich ins Unermessliche. Mir ist, als wichen sie vor meinen Augen noch weiter zurück.
    Ich habe den Eindruck, zu schweben, mich in Luft aufzulösen und auf meine Seele reduziert zu sein. Oder vielleicht ist der ganze Raum meine Seele, mein ureigenstes Archiv. Ich wandele durch seine dunklen Gänge, ziehe Erinnerungen aus den Regalen. Der Geist ist ein sonderbares Land – er hat viele Mauern, ist aber ohne Raum und Zeit.
    Ich kann Alexander nicht verübeln, was er mit den Unterlagen angestellt hat. Ich wäre mit meinem Gedächtnis ähnlich verfahren, hätte Teile gelöscht oder umgeschrieben, um sie erträglich zu machen. Aber auch das geht nicht ohne Schmerzen. Jeder Schnitt hinterlässt eine Lücke, und am Ende sind es so viele, dass ich kaum mehr bin als ein Scherenschnitt. Aber wie könnte ich sonst mit mir leben?
    Meine ausgestreckte Hand findet einen festen Widerstand. Es ist eine der Säulen. Sie fühlt sich kalt an, kalt und real. Ich ertaste die eingemeißelten Zeichen XV und Ω und drücke meine Fingerkuppen auf die scharfen Ränder.
    Plötzlich fällt mir etwas ein. Alle Dokumente haben, wie zu erwarten war, dieselbe Signatur – XV/Ω. Aber als ich damals, nächtens im Palast, Alexanders Koffer durchsuchte, trugen sie andere Zeichen.
    XII/Π. Ich schreibe, um mein tiefempfundenes Beileid zum Tod deines Enkelsohnes zum Ausdruck zu bringen.
    Der Gedanke setzt mir ein Ziel, und Ziele machen mir

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