Die Geheimnisse der Toten
Geheimdienst.»
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Konstantinopel – Mai 337
Es ist ein heißer Tag, doch das Bad hat mich bis ins Mark ausgekühlt. Eine neue Idee ergreift mich wie ein Fieber. Möglich, dass uns Symmachus in einem letzten Versuch, dem Exil zu entkommen, Lügen aufgetischt hat, was ich aber nicht mehr so recht glaube.
Simeon war tatsächlich verblüfft, als ich ihn des Mordes bezichtigt habe. Dabei liegen die Beweise auf der Hand: Die Dokumente waren in Symmachus’ Besitz. Ich hatte mir eingeredet, der Alte sei einem Komplott zum Opfer gefallen. Aber was, wenn er die Dokumente schon die ganze Zeit über hatte? Er tötete Alexander in der Bibliothek, nahm den Dokumentenkoffer an sich und fand darin alle schmutzigen Geheimnisse Konstantins. Kein Wunder, dass er die Dokumente loswerden wollte.
Mir ist inzwischen egal, wer Alexander umgebracht hat. Ich will nur noch wissen, was Symmachus herausgefunden hat und warum er sterben musste.
Konstantin ist nicht der erste Herrscher, der seinen Palast auf der Landzunge errichtete. Wie nicht anders zu erwarten, hat er die Vergangenheit eingerissen und auf ihren Fundamenten etwas Neues gebaut, das seine Vorgänger in den Schatten stellt. Bei den Ausschachtungen stieß man auf eine riesige, leere Zisterne. Konstantin kam, um sie persönlich in Augenschein zu nehmen.
«Eine Schande wär’s, diesen Raum nicht zu nutzen», urteilte er. «Hier richten wir unser Archiv ein.»
Und so entstand das Scrinium Memoriae , der Schrein der Erinnerung, in dem sämtliche Urkunden und Gutachten aufbewahrt werden. Dass er die Stelle der alten Zisterne einnimmt, ergibt durchaus Sinn. Er ist der Ablauf des Reiches, die Quelle der Erinnerung. Und die in langen Regalen gestapelten Unterlagen sind unergründlich tief.
Man betritt das Archiv durch einen Leseraum, der selten aufgesucht wird. Dort sitzt der Archivar an seinem Pult und versieht ein Manuskript mit Anmerkungen. Ich halte ihm Konstantins Bevollmächtigung unter die Nase.
«Es gab einen Bischof namens Alexander. Ich vermute, er war des Öfteren hier, um für seine Geschichte des Augustus zu recherchieren.»
«Ja, ich erinnere mich.» Er saugt am Ende seiner Rohrfeder. «Aber seit ein paar Wochen habe ich ihn nicht mehr gesehen.»
«Er ist tot. Ich möchte die Urkunden sehen, für die er sich interessiert hat.»
«Welche genau?»
«Ich habe gehofft, du wüsstest es.»
Er mustert noch einmal meine Bevollmächtigung, die vor ihm auf dem Pult liegt. «Sie sind seit zehn Jahren unter Verschluss. Der Augustus selbst hat es so verfügt. Ich habe dreimal mit dem Palast Rücksprache genommen, um mich zu vergewissern, dass der Bischof tatsächlich Zugriff darauf nehmen darf.» Er betrachtet mich aus kleinen, stechenden Augen. «Er ist tot?»
«Zeige mir einfach, wo ich diese Unterlagen finde.»
Er schlurft auf die hohe Tür zu, nimmt einen langen Schlüssel von seiner Halskette und steckt ihn ins Schloss. Seine Handbewegungen sind so routiniert wie die einer Bäuerin, die einem Huhn den Hals umdreht.
«Tritt ein.»
Ich komme mir vor wie in einem Verlies. Die Schatten dehnen sich ins Unendliche. Säulen, die alle paar Schritte die Decke stützen, ragen wie versteinerte Bäume vor mir auf. Staubige Regale stehen dazwischen; sie enthalten Körbe voller Schriftrollen. Man könnte meinen, alles Wissen der Welt sei hier gelagert. Aber wo fange ich an zu suchen?
In jede Säule sind ein griechischer Buchstabe und eine römische Zahl eingemeißelt. Folgt man der Längsreihe, bleibt die Zahl dieselbe, und nur der Buchstabe ändert sich. In der Querreihe ändern sich die Zahlen, und der Buchstabe bleibt derselbe. Der ganze Raum ist wie ein großes Raster angelegt. Ich zähle im Gehen die Säulen ab. XV/Φ. XV/X. XV/ψ. Ich versuche, mich an das griechische Alphabet zu erinnern, und zähle es rückwärts auf, um den Weg nach draußen finden zu können, falls ich mich verirre.
XV/Ω. Der Archivar bleibt stehen. Wir haben Omega erreicht, den letzten Buchstaben. Der Korridor aber führt weiter, ins Dunkle. Ich frage mich, was dort noch ist. Aus einer in die Säule eingelassenen Nische zieht er eine Bronzelampe hervor und entzündet sie an seiner.
«Ist eine offene Flamme hier nicht viel zu gefährlich?», frage ich. Meine Stimme wird von der riesigen Dunkelheit fast geschluckt.
«Wie sollten wir sonst sehen?» Er reicht mir die Lampe und macht kehrt. «Nimm dir, was du willst, und geh damit in den Leseraum.»
Er entfernt sich. Die
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