Die Geheimnisse der Toten
Mut. Ich hebe die Lampe in die Höhe, eile durch die Gänge zwischen den Regalen und zähle die Säulen, bis ich die richtige Stelle gefunden habe.
Durch die Wände aus Papier dringen Simeons Worte an mein Ohr. Du hast dein ganzes Leben in Dunkelheit verbracht.
Alexander war mit Sicherheit hier unten im Archiv. Die gebrochenen Siegel verraten es. Ich hole alle Schriften hervor, die frisch versiegelt sind. Schon wenig später stelle ich fest, dass die meisten Papiere vom Hof der Kaiserwitwe Helena stammen. Sie lebte in Rom und starb vor neun Jahren. Offenbar hat Konstantin ihren gesamten Nachlass nach Konstantinopel in Sicherheit gebracht.
Viele Kästen wurden geöffnet, etliche Seiten zerfetzt. Helena hat ihren ältesten Enkel vergöttert und ihm zahllose Briefe geschrieben. Anders als die kaiserliche Kanzlei ließ sie ihre Schriften in Codices zusammenbinden, wie es die Christen tun. Alexander hat Lücken hineingerissen, denen ich folgen kann wie Spuren im Schnee. In der Stille des riesigen Raumes ist nur meine murmelnde Stimme zu hören, während ich lese.
Das Lampenlicht fängt an zu flackern. Das Öl scheint verbraucht zu sein. Ich weiß, ich müsste gehen, kann mich aber nicht aufraffen und wende die Seiten wie unter Zwang.
Die Lebenden erreicht, wer die Toten navigiert.
Der Text verschwimmt vor meinen überanstrengten Augen. Fast hätte ich etwas übersehen. Ich will schon die nächste Seite aufschlagen, als ich plötzlich innehalte, im letzten Moment aufmerksam geworden auf einen Text.
Es ist ein Brief an die Kaiserin, offenbar ein Duplikat, kopiert von einem Schreiber. Ein Einriss in der Bindung lässt darauf schließen, dass Alexander ihn in Gänze herauszureißen versucht, sich aber dann doch damit begnügt hat, nur den ersten Absatz zu entfernen. Mit ihm sind auch der Absender und das Datum verschwunden. Übrig geblieben ist ein Gedicht.
Die Lebenden erreicht, wer die Toten navigiert,
wo jenseits aller Schatten hell die Sonne brennt,
Rettungszeichen, das den Weg dorthin illuminiert
mit unbesiegtem Glanz im Lebensorient.
Vom Garten hin zur Felsenkluft
gab der Vater trauernd seinen Sohn
und legte ihn in eine hohle Gruft,
Trophäe seiner Siege Lohn.
Ich starre auf die Seite und versuche, den Zeilen einen Sinn abzugewinnen. Gleichzeitig stellt sich mir die Frage, warum Alexander die Version, die in seinem Koffer lag, verschwinden ließ und nicht auch diese hier. Aber vielleicht verstehe ich seinen Zwiespalt. Es geht in diesem Gedicht eindeutig um Crispus, obwohl an keiner Stelle explizit auf ihn verwiesen wird. Ist es ein Rätsel? Wer hat es verfasst?
Die Lampe zischt und verlischt. Ein Beben durchfährt mich. Ich stürze wie ein Kind. Meinen alten, schlaffen Händen entgleitet die Lampe. Sie fällt zu Boden. Ich bin von Dunkelheit umschlossen.
Von weit her höre ich mich bei meinem Namen gerufen.
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37
In der Nähe von Belgrad, Serbien – Gegenwart
«Guten Abend, Sie sprechen mit dem Auswärtigen Amt. Was kann ich für Sie tun?»
«Verbinden Sie mich mit der Balkan-Kontaktstelle.»
«Einen Moment bitte.»
Das Telefon spielte Bach – himmlische Klänge unter den Motorengeräuschen und quietschenden Bremsen an der Tankstelle. Abby stand draußen vor dem Café und drückte den Hörer fester ans Ohr.
Eine Frau meldete sich mit Namen. Sie klang jung und müde und fragte, mit wem Abby zu sprechen wünschte.
«Mark Wilson.»
«Der ist zurzeit leider nicht in seinem Büro. Kann ich …»
«Holen Sie ihn an den Apparat.» Abby überraschte sich selbst mit ihrer wütenden Entschlossenheit. «Sagen Sie ihm, Abby Cormac muss mit ihm reden.»
«Unter welcher Nummer kann er Sie erreichen?»
Hatte sich die Stimme der Frau verändert, oder bildete sich Abby das nur ein? Kennen wir uns?, fragte sie sich. Haben wir uns schon Mails geschrieben oder in der Kantine gegenübergesessen? Sie versuchte, der Stimme ein Gesicht zuzuordnen, was ihr aber nicht gelang.
«Ich melde mich in einer Stunde noch einmal. Sorgen Sie dafür, dass er dann zu sprechen ist.»
Sie legte auf und kehrte an den Tisch zurück. Michael und Nikolić saßen immer noch an ihrem Platz und blickten zu ihr auf.
«Und?», fragte Michael.
«Er war nicht da. Ich habe gesagt, dass ich in einer Stunde noch einmal anrufe.»
Michael lehnte sich zurück. «Können Sie uns zur kroatischen Grenze bringen? Es soll für Sie nicht umsonst sein.»
Nikolić schaute auf seine Uhr. «Ich bin alleinerziehender Vater von
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