Die Geheimnisse der Toten
zwei Söhnen. Meine Schwester holt sie von der Schule ab, aber sie werden sich schon fragen, wo ich bleibe. Ich bringe Sie zur Sremska Mitrovica. Von dort aus können Sie einen Bus nehmen.»
Sie fuhren wieder über die dunkle Autobahn.
«Was wissen Sie sonst noch über diesen Porfyrius?», fragte Abby.
«Wenig. Er musste für eine Weile ins Exil. Keiner weiß, warum und für wie lange. Wir glauben, dass er die meisten seiner Gedichte in der Verbannung schrieb. Er wollte Konstantin dadurch überreden, ihn nach Hause zurückzuholen.»
«Mit Erfolg?»
Nikolić nickte. «Er wurde 326 begnadigt und kehrte zurück. Anscheinend hat er dann irgendetwas geleistet, womit er die Gunst des Kaisers gewann, denn er machte ihn zum Präfekten von Rom. Mehr ist über ihn nicht bekannt.»
Er schwieg für eine Weile.
«Seltsam …», sagte er plötzlich und wechselte die Spur, um einen Tanklastzug zu überholen, der auf die Grenze zufuhr.
«Was ist seltsam?», fragte Abby.
«Das Gedicht – die Zeile ‹Gab der Vater trauernd seinen Sohn›.»
«Klingt irgendwie ein bisschen neutestamentarisch, oder?», warf Michael ein, der wieder auf der Rückbank saß.
Nikolić zog die Stirn kraus. «Das Gedicht ist voll von christlichen und neoplatonischen Gedanken. Allerdings haben wir hier auch eine geschichtliche Parallele. Konstantin hatte einen Sohn namens Crispus. Er war ein erfolgreicher General und Anwärter auf den Thron.»
«Ich habe nie von ihm gehört», sagte Abby.
«Konstantin ließ ihn 326 ermorden und seinen Namen aus den Annalen tilgen, ganz im Sinne der damnatio memoriae – der Verdammung des Andenkens, die in Ungnade gefallene Personen traf. George Orwell hätte von Unpersonen gesprochen. Deren Statuen wurden niedergerissen oder beschmutzt, Inschriften entfernt, Aufzeichnungen abgeändert. Konstantins Biograph Eusebius musste sein Buch umschreiben und jeden Hinweis auf die Existenz Crispus’ löschen. Wir wissen von ihm nur, weil Kopien beider Ausgaben erhalten geblieben sind.»
«Was hat Crispus getan, dass er in Ungnade fiel?», fragte Michael.
«Das weiß keiner. Anspielungen auf den Mord an ihm tauchen erst zweihundert Jahre später auf, und zwar in der Schrift eines heidnischen Historikers, der Konstantin zu diskreditieren versuchte. Er behauptet, Crispus sei vergiftet worden, weil er angeblich eine Affäre mit Konstantins zweiter Frau Fausta hatte, die noch im selben Jahr starb.»
«Klingt wie die Familiengeschichte der Sopranos.»
«Aber was ist so seltsam an dieser Gedichtzeile?», wollte Abby wissen. «Dass sie nicht entfernt wurde?»
«Unter den erhalten gebliebenen Gedichten des Porfyrius sind etliche, die Crispus rühmen. Daraus kann man schließen, dass sie vor 326 verfasst wurden, als Crispus noch in der Gunst seines Vaters stand. Aber ein Gedicht nach seinem Tod zu schreiben und auch noch auf darauf anzuspielen, dass er ermordet wurde, dürfte ziemlich riskant gewesen sein.»
«Wohin führt uns das?», fragte Michael ungeduldig.
Wie zur Antwort setzte Nikolić den Blinker und verließ die Autobahn. Er zeigte auf das Verkehrsschild.
«Sremska Mitrovica», sagte er.
Es war Nacht geworden. Nieselregen ließ die Straßen glänzen und besprenkelte die Windschutzscheibe. Abby blickte durchs Fenster, auf dem sich Neonlichter schmierig spiegelten, und sah Pfützen und leere Hauseingänge. Während sie durch die schlafende Stadt fuhren, kam sie sich vor wie am Ende der Welt, wie in einer Film-noir-Kulisse, die durch ein Wurmloch gefallen war.
«Zur Zeit der Römer war das eine große Stadt», sagte Nikolić. «Damals hieß sie Sirmium. Kaiser Galerius hatte sie zu seiner Hauptstadt gemacht. Übrigens wurde Konstantins Sohn Crispus hier zum Cäsar ernannt.»
«Von der einstigen Größe ist wohl nicht viel übrig geblieben», bemerkte Michael.
Nikolić fuhr an den Straßenrand gegenüber der Bushaltestelle.
«Endstation», erklärte er. «Von hier aus kommen Sie nach Zagreb, Budapest, Wien – wohin auch immer. Ich fahre jetzt nach Hause zu meinen Söhnen.»
Abby schaute auf das Foto, das am Armaturenbrett steckte und zwei Jungen mit Cowboyhüten und Sheriffsternen zeigte. Sie stellte sich vor, wie sich seine Kinder freuten, wenn sie ihn kommen hörten. Ein warmes Zuhause, Abendessen auf dem Tisch und die sorgenvolle Frage seiner Schwester: Wo warst du?
Spontan beugte sie sich zur Seite und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. «Danke für alles.»
Er schien ein wenig in Verlegenheit zu
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