Die Geheimnisse der Toten
geraten. «Passen Sie gut auf sich auf, okay?»
«Sie auch. Und warten Sie mit der Veröffentlichung des Gedichts, bis wir grünes Licht haben.»
«Wie erfahre ich davon?»
«Wir bleiben in Kontakt.»
«Es sei denn, Sie lesen unsere Namen in den Schlagzeilen», fügte Michael hinzu.
Abby stieg aus. Es regnete stärker als gedacht. Ihr Gesicht war sofort nass. Sie schlug die Tür zu und eilte in den Schutz einer Toreinfahrt. Nikolić winkte und fuhr los.
«Was nun?»
Als hätte er ein Gefühl von Verlorenheit in ihrer Stimme gehört, nahm Michael sie in die Arme und drückte sie an sich. Er nickte in Richtung Busstation. «Wir müssen raus aus Serbien. Dragović hat seine Leute überall.»
«Glaubst du, der Mann heute Nachmittag im Park gehörte auch zu ihm?» War es wirklich erst an diesem Nachmittag gewesen? Ihr Zeitgefühl war wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen.
«Vielleicht. Oder zu Giacomo. Oder zu beiden. Giacomo würde nicht zögern, uns ans Messer zu liefern, wenn für ihn etwas dabei herausspränge.» Michael seufzte. «Ein Grund mehr, das Weite zu suchen.»
«Leider hast du etwas vergessen.» Sie rückte von ihm ab und sah ihm ins Gesicht. «Ich habe keinen Reisepass.»
«Ich arbeite für den Zoll.» Er wischte sich eine nasse Strähne aus der Stirn und lächelte. «Ich mache mir viel mehr Sorgen darüber, dass du keinen Regenschirm hast.»
Er nahm ihren Arm. In einer von Papierabfällen übersäten Seitenstraße fanden sie ein Reisebüro. Verblichene Plakate im Schaufenster zeigten Flugzeuge von Air Yugo durch einen blauen Himmel schweben; sozialistische Familien lächelten an sozialistischen Stränden in Dalmatien oder auf der Krim. Plakate jüngeren Datums warben für billige Ferngespräche, ausländische Devisen und SIM-Karten. In der unteren Ecke hing ein von blinkenden Weihnachtslichtern umrahmtes Pappschild, auf dem, mit rotem Filzstift aufgemalt, VISA angeboten wurden.
Eine schwarz gekleidete Frau mit staubgrauen Haaren saß hinter einer Theke und vertrieb sich die Zeit an einem schwarzen Laptop.
«Ich hätte gern einen Pass für meine Schwester», sagte Michael auf Serbisch. «Ihre Tante in Zagreb ist sehr krank und braucht dringend ihre Hilfe.»
Die Frau machte eine abwehrende Handbewegung. «Die Passstelle ist geschlossen.»
Michael zauberte einen Fünfzigeuroschein aus der Tasche. Die Frau betrachtete ihn missbilligend.
«Sind Sie von der Polizei? Glauben Sie, ich würde mich bestechen lassen?» Sie schüttelte den Kopf. «Mein Laden ist sauber.»
«Ich bin nicht von der Polizei. Ich brauche einen Pass für meine Schwester. Ihre Tante ist sehr krank.» Michael hielt jetzt zweihundert Euro in der Hand.
Die Frau musterte Abbys Gesicht. Der Bluterguss und die Platzwunde an der Stirn entgingen ihr nicht. Sie bedachte Michael mit einem wissenden Lächeln und schob die Zungenspitze in den Mundwinkel.
Sie glaubt, er handelt mit Frauen, dachte Abby und spürte, wie sich ihre Haut zusammenzog. Sie kam sich nackt vor.
«Vielleicht warten Sie noch eine Woche. Vielleicht geht’s Ihrer Tante dann wieder besser. Mein Laden ist sauber», entgegnete die Frau, lächelte aber immer noch.
Michael legte das Geld auf die Theke. «Vielleicht könnten Sie mal im Hinterzimmer nachsehen», sagte Michael.
Um tausend Euro erleichtert, verließen sie das Reisebüro. Dass sich Abby dennoch billig vorkam, hatte einen anderen Grund. Unter einer Straßenlaterne musterte sie das Passfoto, sog ihre Wangen ein und versuchte ähnlich verhärmt auszusehen wie die Frau, die darauf abgebildet war.
«Es muss nicht überzeugen», sagte Michael. «Hauptsache, das Foto ist glaubwürdig genug, dass sich die Passkontrolle schmieren lässt.»
Sie schaute auf die Uhr, zwang sich, an das Nächstliegende zu denken. «Ich muss London anrufen.»
Auf dem Hauptplatz fand sie einen Münzfernsprecher und wählte die Nummer, die sie auswendig kannte. Michael wartete vor der Zelle. Es dauerte wieder, bis sie von der Rezeption zur Balkan-Kontaktstelle weitergeleitet wurde.
«Wo sind Sie?»
«Auf dem Balkan.» Wahrscheinlich würde man die Telefonnummer zurückverfolgen, aber sie wollte es ihnen nicht leicht machen.
«Was zum Teufel treiben Sie da? Jessop ist tot, Sie werden vermisst. Ich höre verrückte Sachen über Schießereien im Kosovo und eine altrömische Grabstätte.»
«Es ist auch verrückt», stimmte Abby zu. «Später mehr darüber.»
Mark schlug einen anderen Ton an. «Kommen Sie zurück, Abby. Sie
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