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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Flasche hin. «Entscheide du.»
    Ich nehme sie entgegen und werfe sie, ohne lange zu zögern, auf den Strand. Das Glas zerspringt, sehr laut in der Abendstille. Die Fingerhutlösung versickert zwischen den Steinen.
    «Danke.»
    Mich schmerzt der Anblick seiner Erleichterung so sehr, dass ich wegschaue. Ich greife unter meine Tunika und ziehe den Dolch, der darunter festgeschnallt ist. Crispus lacht, aber es ist ein kleiner, einsamer Laut, den er von sich gibt.
    «Gaius Valerius, wie immer dienstfertig und zu allem bereit.»
    Ich kann ihm nicht in die Augen sehen. «Dreh dich um», befehle ich.
    Er gehorcht und starrt auf den Horizont im Westen, Auge in Auge mit der untergehenden Sonne. Das letzte Tageslicht leuchtet auf seinem Gesicht, als habe sein Übergang in die andere Welt bereits begonnen. Für einen Moment scheint der ganze Strand zu glühen. An meinem Leib ist jede Pore zur Welt geöffnet, jeder Laut und jeder Duft sind tausendfach verstärkt. Ein Fisch steigt aus dem Wasser und klatscht darauf zurück; auf einem fernen Feld kräht ein Hahn; ein warmer, würziger Hauch weht von den Pinien herbei. So fühlt es sich vielleicht an, wenn man liebt.
    Das Messer durchstößt seinen Rücken und trifft ins Herz. Der Horizont verschluckt die Sonne, die Welt wird grau. Crispus fällt lautlos in die Brandung. Die Wellen überspülen seinen Leichnam mit aufgewühlten Kieselsteinen. Schäumendes Wasser rinnt tränengleich über den Strand zurück.

Villa Achyron, in der Nähe von Nikomedia – Mai 337
    Jetzt ist mein Gesicht wieder tränennass. Zehn Jahre lang war die Erinnerung an jenen Tag tief in mir verschlossen. Gleichzeitig scheint es, als hätte ich diesen Strand nie verlassen. Die leeren Denkmalsockel, die verunstalteten Monumente, die gelöschten Inschriften: Sie alle zeugen von meiner Schuld. Wie oft habe ich mir gewünscht, ich hätte den Dolch aus Crispus herausgezogen und gegen mich selbst geführt oder das vergossene Gift von den Steinen geleckt!
    Crispus’ letzter Wunsch ging in Erfüllung. Er starb als unschuldiger Mann. Konstantin musste sich nie den Folgen seiner Entscheidung stellen. Die letzten zehn Jahre seines Lebens widmete er der Beseitigung des Andenkens an seinen Sohn. Mir blieb es überlassen, das Verbrechen zu sühnen.
    Vielleicht will er mich deswegen jetzt sprechen.
    Ich stehe auf und gehe auf die bronzene Tür zu. Meine alten Gelenke schmerzen – ich habe zu lange im Sattel gesessen.
    «Kann ich ihn sehen?»
    Der Wachposten rührt sich nicht. «Ich habe keine Befehle.»
    «Er verlangt nach mir. Er ließ mich aus Konstantinopel kommen.» Ich bin verzweifelt; ich weiß nicht, wie viel Zeit noch bleibt.
    Jenseits der Tür ist ein Geräusch zu hören. Sie schwenkt plötzlich auf. Eine Schar Priester strömt hervor, eine in Gold gekleidete Gestalt in ihrer Mitte. Auf den ersten Blick glaube ich, Konstantin vor mir zu sehen.
    Es ist Eusebius. Von den Kümmernissen, die in diesem Haus walten, scheint er unberührt zu sein. Er trägt seinen Kopf triumphierend hoch, auf seinen feisten Wangen liegt ein seliges Lächeln. Sein Blick schweift majestätisch durch den Raum – und bleibt an mir haften.
    «Gaius Valerius Maximus. Wie gut, dass du hier bist. Der Augustus wünscht dich zu sehen.» Er stößt mich durch die Tür. «Beeil dich. Du hast nicht viel Zeit.»
    Der Raum, in den ich stolpere, ist riesengroß, ein Speisesaal, aus dem bis auf eine Liege alles entfernt wurde. Ich frage mich, warum man ihn ausgerechnet hierhin gebettet hat. Die Liege steht in der Mitte des Raumes und ist mit weißen Laken bezogen – eine Insel in einem weiten Meer. Konstantin liegt auf dem Rücken. Er hat die Augen geschlossen und den Mund ein wenig geöffnet. Sein Gesicht ist kreidebleich, von der alten Vitalität ist nur noch ein fahler Abglanz zu erkennen. Neben der Liege steht auf einem hölzernen Sockel ein mit Wasser gefülltes Becken aus Gold. Die Oberfläche zittert, als ich daran vorbeigehe.
    Mein Herz rast. Komme ich zu spät? «Augustus!», rufe ich. «Konstantin. Ich bin es, Gaius.»
    Seine Augen springen auf. «Ich habe nach dir verlangt und zähle die Stunden.»
    «Man hat mich nicht zu dir gelassen.»
    Meine Auskunft scheint ihn zu verärgern. Er versucht, sich aufzurichten, doch seine Arme sind zu schwach. «Hat mein Wort kein Gewicht mehr? In meinem eigenen Haus nicht?»
    «Warum kümmert sich keiner um dich?»
    «Weil ich mich vorbereiten will. Eusebius wird mich taufen.»
    Meine Miene verrät wohl

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