Die Geheimnisse der Toten
Augäpfel, die schlaffen Falten ringsum. Augen, die die Welt prüfend in ihren Blick genommen haben.
«Was glaubst du, warum ich dich nach Pula geschickt habe?», flüstert er. «Ich dachte, wenn irgendjemand Mitleid walten lässt, dann du. Du hättest es wissen müssen.»
Seine Worte reißen mir wie ein schartiges Messer das Herz auf. Meint er wirklich, was er da sagt? Habe ich mich so geirrt? Oder schreibt er die Geschichte um, um sein Gewissen zu entlasten? Ich starre ihm in die Augen und halte die Luft an.
Was ist letztlich wahr? Philosophen behaupten, die Götter wüssten die Antwort, und vielleicht haben sie recht. Für uns Menschen ist die Wahrheit nur eine Ansammlung trügerischer Erinnerungen und Lügen.
«Ich habe getan, was du von mir verlangt hast.»
Sein Blick scheint zu verschwimmen. «Erinnerst du dich an Aurelius Symmachus?», haucht er.
Will er seine Beichte etwa fortsetzen?
«Am Vortag meiner Abreise aus Konstantinopel schickte er mir einen Brief in den Palast. Er schrieb, er wisse die Wahrheit über meinen Sohn und wolle mich sprechen. Hätte ich ihn anhören sollen? Was meinst du?»
«Die Wahrheit über deinen Sohn?» Er meint doch wohl die Wahrheit über Alexander, über Eusebius und die Christenverfolgung.
«Ich wollte ihn nicht sehen und schickte ihn zu meiner Schwester.»
Mir schwirrt der Kopf. «Du hast Symmachus zu deiner Schwester geschickt?»
Aber es geht nicht um Symmachus. «Ich dachte, die Wahrheit könnte …» Er stockt. «Ich sah ihn. Im Augusteum zwischen den Standbildern. Er hätte tatsächlich da sein sollen.»
«Du wirst bald wieder mit ihm zusammentreffen», sage ich.
«Wirklich?» Er schlägt die Augen auf und fragt mit fester Stimme: «Glaubst du, ich habe das Leben verdient, das ich führte? Eusebius sagt, er könne auch den dunkelsten Fleck wegwaschen.» Konstantin schüttelt den Kopf. «Kannst du das glauben?»
«Du hast ein gutes Leben geführt und der Welt Frieden gebracht.»
«Nein, nicht Frieden, sondern das Schwert», entgegnet er aus unerfindlichen Gründen. «Während der letzten zehn Jahre bin ich jeden Sommer zu Felde gezogen. Wenn ich nun sterbe, bin ich von mehr Soldaten umgeben als von Priestern. Glaubst du, all die Ehren, die ich angehäuft habe, wären noch von Belang, wenn mich Christus vor den Pforten des Himmels empfängt? Der Unbezwungene, viermal siegreich über die Germanen, zweimal über die Sarmaten, zweimal über die Goten, zweimal über die Daker … Wird er mich so begrüßen?»
Am anderen Ende des Raumes geht die Bronzetür knarrend auf. Mit sorgenvoller Miene schaut ein Priester herein.
«Eusebius –»
«Er soll warten!», brülle ich. Aber Konstantin ist ungeduldig; seine Zeit läuft ab. Er krallt seine knochigen Finger in meine Tunika und richtet sich auf. Ich spüre seine Fieberhitze.
«Vergibst du mir?»
Tue ich das? Mir stockt der Atem. Seit elf Jahren warte ich auf diese Frage. Ihr Ausbleiben war die Leere zwischen uns, das Siechtum unserer Freundschaft und die Auszehrung unserer selbst. Jetzt, da er sie stellt, bleibt mir die Antwort im Hals stecken. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Ich erinnere mich, was mir Porfyrius über Alexander sagte: Er verzieh mir alles. Ganz ohne Tadel oder Belehrung.
Ich beuge mich über den Sterbenskranken und umarme ihn, lege meinen Kopf auf seine Schulter, spüre die pudrige Haut auf meiner Wange und flüstere ihm ins Ohr:
«Lebe wohl.»
Seine Glieder krampfen. Er stößt einen Schrei voller Wut oder Verzweiflung aus und fängt an zu röcheln. Nur mit Mühe kann ich mich aus seinem Krallengriff befreien, doch er gibt nicht auf, reißt sich die Decke herunter und schlägt um sich.
Wankend haste ich zur Tür. Sie steht offen. Wächter dringen ein, gefolgt von Priestern und Soldaten. Ich kämpfe mich durch die Menge und stehe unversehens Eusebius gegenüber.
«Du kannst jetzt über deine Beute verfügen», sage ich zu ihm.
Ich glaube nicht, dass er meine Worte gehört hat. Die Menge schiebt ihn auf Konstantins Bett zu, während ich das Weite suche.
Kaum bin ich wieder allein, überfällt mich Reue. Wer bin ich, dass ich einem alten Freund ungeachtet seiner Taten einen letzten Trost versage? Ich mache kehrt, um ihm zu vergeben, um ihm zu sagen, dass ich ihn liebe.
Aber die Höflinge verstellen mir den Weg, so dicht umringen sie das Sterbebett, vor dem Eusebius mit einer Schale Wasser steht. Immerhin höre ich, was er sagt.
«Fahr dahin, um zu neuem Leben zu erwachen, das ewig
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