Die Geheimnisse der Toten
Abscheu und Schmerz. Er sieht es.
«Es ist Zeit, Gaius. Ich habe lange genug gezögert. Mein Lebtag lang habe ich versucht, die Größe dieses Reiches zu ermessen und allen, die darin leben, als Regent gerecht zu werden, gleichgültig, welchen Gott sie verehren. Ich habe ihnen nie gepredigt – auch dir nicht.»
Er hat mich missverstanden. Wenn ihm dieser seltsame Christenzauber zum Ausgang seines Lebens guttut, soll es mir recht sein. Aber ich ertrage es nicht, dass hier, an seinem Totenbett, Eusebius das Sagen hat.
Er schließt die Augen wieder. «Ich wünschte, mein Sohn wäre hier.»
Mir wird kalt. Ahnte ich doch, dass dies kommen würde. Vielleicht habe ich schon, als ich im Vorraum wartete, mit Konstantin dessen Fieberträume geteilt.
Mit Absicht deute ich seine Worte falsch. «Constantius wird bald aus Antiochia eintreffen. Auch Claudius und Constans beeilen sich zu kommen.» Ich glaube kaum, dass sie es rechtzeitig schaffen werden. Als ich das letzte Mal von Claudius, Faustas ältestem Sohn, hörte, war er in Trier und residierte in Crispus’ Palast. Constans, der Jüngste, hält sich in Mailand auf.
«Gute Burschen.» Er klingt nicht gerade überzeugt, was aber vielleicht an seiner Krankheit liegt. «Sie schützen das Reich.»
Es sind Faustas Söhne, die Enkel des alten Schlachtrosses Maximian. Ränke, Mord und Anmaßung sind ihnen in die Wiege gelegt. In spätestens drei Jahren wird es zum offenen Krieg kommen.
«Wirst du dich auch um meine Töchter kümmern?»
«Ich tue, was ich kann.» Trotz des bewegenden Augenblicks ist mein Verstand hellwach. Wenn Konstantin geht, werde ich für niemandes Sicherheit mehr garantieren können, am allerwenigsten für meine eigene. Ich bin das Überbleibsel einer Vergangenheit, die vor meinen Augen verschwindet.
Konstantin atmet schnell und stockend. «Ich muss mich vorbereiten. Ich muss meine Sünden gestehen.»
«Mir musst du nichts gestehen.»
«Doch.» Eine Hand fährt unter dem Laken hervor. Knochige Finger umklammern mein Handgelenk. Seit wann ist er so dürr? «Eusebius sagt, ich muss meine Sünden bekennen, ehe er mich taufen kann. Darauf habe ich ihm geantwortet, dass ich nur vor dir beichten werde.»
Das wird Eusebius nicht gefallen haben. Kein Wunder, dass er mich warten ließ.
«Du weißt, was ich getan habe.»
«Deshalb muss es auch nicht ausgesprochen werden.» Ich ziehe ihm die Decke bis unters Kinn. «Nicht dass dir kalt wird.»
« Bitte. Die Himmelspforte verschließt sich vor mir, Gaius. Was ich getan habe … nicht nur in diesem einen Fall. Nicht minder zählen jedes von mir unterzeichnete Todesurteil, jedes Kind, das ich nicht geschützt habe, jeder Mann, den ich in den Tod schickte, weil es das Reich so verlangte …»
Ich frage mich, ob er Symmachus im Sinn hat.
«Ich habe ihn immer noch vor Augen», sagt Konstantin plötzlich. «Vor einem Monat erst sah ich ihn, als ich in der Abenddämmerung durch das Augusteum geritten bin. Vor lauter Freude wäre ich fast vom Pferd gesprungen, um ihn zu umarmen. Ich dachte an all die Dinge, die ich ihm sagen wollte, und hatte das Gefühl, als läutere sich meine Seele von jedem Tropfen Galle.»
Speichel trieft ihm aus dem Mundwinkel. Ich wische ihn mit dem Lakenzipfel fort.
«Aber natürlich war er verschwunden, bevor ich ihn erreichte.» Mit einem Ruck dreht er sich zur Seite wie ein Mann, der von einer Welle herumgewälzt wird. «Wie oft habe ich gebetet, du hättest mir nicht gehorcht! Dass alles nur gelogen war, dass du ihn entkommen ließest. Erinnerst du dich an unsere Scherze, als wir an Galerius’ Hof gefangen gehalten wurden? Wir wollten in die Berge laufen, allen Ruhm und Ärger hinter uns zurücklassen und wie die Schäfer in Dalmatien leben. Dort wünsche ich ihn mir jetzt auch.»
Ist das eine Beichte? Damit wäre Eusebius wahrscheinlich nicht einverstanden. Ich kann Konstantin nicht verübeln, dass er auf das eigentliche Thema nicht zu sprechen kommen will. Aber es bleibt nicht viel Zeit. Hinter der Bronzetür sind Geräusche wie von einem eingesperrten Tier zu vernehmen. Eusebius wird gleich zur Stelle sein, um seinen Triumph auszukosten. Er kann nicht wollen, dass der Tod ihm seinen prominentesten Konvertiten vor der Nase wegschnappt.
Konstantin spricht weiter, doch seine Stimme ist so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. Ich rutsche vom Stuhl und knie mich auf den marmornen Boden. Unsere Augen sind nur eine Handbreit voneinander entfernt. Ich sehe die Äderchen seiner
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