Die Geheimnisse der Toten
Namen. Man kennt ihn.
Er tippt mit einer Schreibfeder auf sein Pult. Er ist ein ehrgeiziger junger Offizier mit einer undankbaren Aufgabe und hat viel zu tun. Und er scheint tatsächlich nicht zu ahnen, wer ich bin.
Ich sage es ihm. Er verzieht keine Miene. Für ihn bin ich nur ein Name, nach dem er auf einer Liste sucht. Vergeblich.
«Ist Flavius Ursus zugegen? Der Stabshauptmann?» Immerhin merkt er jetzt auf. «Sag ihm, Gaius Valerius Maximus ist hier, um den Augustus zu sprechen.»
«Ich werde es ihm sagen.»
Ich muss in einem Vorraum warten. Priester, Offiziere und Soldaten gehen ein und aus – Schola-Wachen in ihren weißen Uniformen und Feldkommandeure in roter Schlachtmontur. Mir wird klar, dass ich mich an einem Militärstützpunkt befinde.
Stunden vergehen. In Gedanken kehre ich in eine andere Villa, an eine andere Küste zurück.
Pula, Adriaküste – Juli 326, elf Jahre zuvor
Pula ist eine kleine Hafenstadt an der Südspitze der istrischen Halbinsel, ein ruhiger, gepflegter Ort voller Geschäftsleute, die durch regionalen Handel reich geworden sind. Ich schätze, einen solchen Ort hat Konstantin im Sinn, wenn er von den Freuden eines friedlichen Reiches schwärmt: sauber, wohlhabend und langweilig. Ein Kehrwasser. Für einen Mann, der untertauchen will, genau das Richtige.
Bei Sonnenuntergang erreiche ich die Villa des Statthalters. Die Reise, normalerweise an drei Tagen zu schaffen, hat mich fast eine Woche gekostet. Ich habe keine Nacht durchschlafen können, bin morgens immer viel zu spät aufgebrochen und hatte jede Menge Probleme mit Pferden, Mahlzeiten und Unterkünften. Dabei wollte ich gar nicht hierher. Ich habe Konstantin inständig gebeten, jemand anderen zu schicken. Zum ersten Mal in unserem Leben konnte er mir nicht in die Augen schauen.
«Es muss ein Mann sein, dem ich vertrauen kann», sagte er. «Du bist der einzige.» Er reichte mir eine Ledertasche mit Knotengurt, darin ein Behältnis aus Glas. «Ich will nicht …» Seine Stimme stockte, und er gab einen Laut von sich, der wie ein Schluchzen klang. Was er nicht will, ist meist so schrecklich, dass er es nicht auszusprechen vermag.
«Beeile dich.»
Ich finde Crispus an einem Kieselstrand im Süden der Stadt. Zwischen den Steinen wächst Gras. Fische wimmeln im klaren Wasser zwischen den Felsen. Unter den Pinien, die die kleine Bucht säumen, stehen zwei bewaffnete Wachposten. Sie haben ihren Gefangenen im Auge, der barfüßig und ohne Kopfbedeckung die Wellen über seine Zehen plätschern lässt.
Die Wachen sehen mich kommen, greifen zu ihren Schwertern und fordern mich auf stehen zu bleiben. Sie sind nervös, entspannen sich auch nicht, als ich mich ihnen zu erkennen gebe. Anscheinend rechnen sie damit, dass ich ihnen das gefürchtete Kommando erteile.
Ich schicke sie fort. «Seht zu, dass uns niemand stört!», rufe ich ihnen nach. Sie haben es so eilig, davonzukommen, dass sie kein einziges Mal zurückblicken.
Crispus und ich sind jetzt allein. Ich gehe über den Strand auf ihn zu. Er dreht den Kopf in meine Richtung, lächelt und steht auf.
«Ich habe gehofft, dass du es bist.»
Wir umarmen uns unbeholfen. Eine übereifrige Welle schießt über den Strand und bricht sich an meinen Stiefeln. Ich springe zurück und schaue Crispus dann ins Gesicht. Er hat Ringe unter den Augen, die Haut ist grau. Das Lächeln, das ihm früher so leichtfiel, wirkt gezwungen, fast trotzig.
Ich will etwas sagen, doch er kommt mir zuvor. «Wie geht es meinem Vater?»
«Er ist verloren ohne dich.»
«Tut mir leid, dass ich die Feierlichkeiten zu seinem Jubiläum ruiniert habe.» Er hebt ein paar Kieselsteine auf und wirft einen nach dem anderen ins Meer. «Komisch, noch vor drei Wochen habe ich mir vorgestellt, wie meine Vicennalien wohl aussehen würden. Und jetzt …»
Der letzte Stein taucht fast lautlos ins Wasser ein. «Dein Vater –», hebe ich an. Erneut fällt mir Crispus ins Wort.
«Konnte er der Verschwörung auf den Grund gehen?»
«Welcher Verschwörung?»
«Der Verschwörung gegen mich.» Er wendet sich ab – als wüsste er, dass ihm endgültig etwas Wertvolles entginge, wenn er mich weiter anschaut. «Das alles ist doch lächerlich. Du weißt, dass es mir nie in den Sinn käme, meine Brüder zu töten. Ich liebe sie wie …» Er stockt und lacht laut auf. «Wie Brüder eben.»
«Konstantin ist der Sache gründlich nachgegangen.»
Tatsächlich hat er den ganzen Palast auf den Kopf gestellt, auf der Suche nach
Weitere Kostenlose Bücher