Die Geheimnisse der Toten
bestimmt jemand in der Nähe, der auf Mark aufpasst. Wenn man dich sieht, war alles umsonst.»
Er drehte sich auf die Seite und schaute sie an. «Sei vorsichtig, ja?»
«Bis später.»
Sie ging über eine von Palmen gesäumte Strandpromenade, an leeren Anlegestellen und ein paar wenigen vertäuten Fähren vorbei. Am äußersten Ende der Promenade ragten die Säulen der Palastfassade über kleinen Läden auf, die in die Mauer eingelassen worden waren. Gleich hinter einem Juwelier bog Abby links ab in einen unterirdischen Bogengang, der im Altertum als Schleuse gedient hatte. Jetzt hatten sich darin Souvenir- und Kunstgewerbeläden angesiedelt. Vor ihr lag eine Treppenflucht, die zurück ans Tageslicht führte.
Im Unterschied zu den meisten Bewohnern der westlichen Welt wusste Abby ziemlich genau, wie es sich anfühlte, von der Geheimpolizei beschattet zu werden. Sie hatte es zahllose Male erfahren. Auf der Fahrt zum Belgrader Flughafen war ihr eine Limousine mit getönten Scheiben gefolgt; in Khartum hatte ein Fensterputzer vor dem Konferenzzimmer eine geschlagene Stunde lang das Glas verschmiert; wenn sie in Kinshasa telefonierte, war ständig ein Klicken in der Leitung zu hören gewesen oder das Gespräch plötzlich unterbrochen worden. Einmal hatte sie ihren Vorgesetzten um einen Crash-Kurs in Sachen Gegenspionage gebeten. Das ist keine gute Idee , war ihr gesagt worden. Wenn Sie sich wie ein Amateur verhalten, beobachtet man Sie einfach nur. Erst wenn man Ihnen ansieht, dass Sie wissen, was Sie tun, wird es gefährlich.
Diesmal kam man ihr auf die Spur, als sie gerade den Palast betrat. Es überraschte sie nicht. Die Mauern hatten siebzehn Jahrhunderte standgehalten und waren nur an fünf Stellen passierbar. Untrüglich spürte sie Blicke auf sich gerichtet. Ein Mann in einem grünen Anorak, der vor einem Regal stand und in einer Mappe mit Kunstdrucken blätterte, kam plötzlich in Bewegung und setzte ihr nach. Als sie vor einem Café an einer Frau in einem roten Kleid vorbeigelaufen war, hörte sie kurz darauf die Schritte eines zweiten Verfolgers. Abby hütete sich, einen Blick zurückzuwerfen.
Sie stieg die Treppe hinauf und überquerte einen von hohen, kahlen Mauern umschlossenen Innenhof. Die Beschatter hielten Schritt und folgten ihr durch ein Tor in einen hohen Rundraum, der früher als Vestibül der kaiserlichen Gemächer gedient hatte. Zwei japanische Touristen standen in der Mitte und zielten mit ihren Kameras auf die ovalen Ochsenaugen im Deckengewölbe. Rechts von ihnen studierte ein Mann mit schwarzer Vliesjacke seinen Reiseführer. Vielleicht war es nur Einbildung, aber sie glaubte, ihn verstohlen aufblicken zu sehen, als sie die beiden Japaner passierte und auf den Torbogen in der gegenüberliegenden Wand zusteuerte.
Vom Vestibül aus gelangte sie in das Peristyl, einen rechteckigen Hof, der, wie in der römischen Architektur üblich, den Mittelpunkt des Palastkomplexes bildet. Intakte Säulen reihten sich vor ihr auf; gut erhalten waren auch die Pfeiler an der Stirnseite, die aber nunmehr die Fassade eines venezianischen Palazzos schmückten, der in ein Kaffeehaus umgewandelt worden war. Hinter den Mauerbögen erhob sich das achteckige Mausoleum Diokletians, heute eine Kathedrale. Der hohe Glockenturm gleich daneben überragte die Stadt. An dessen Fuß kauerte eine schwarze ägyptische Sphinx und gab den Betrachtern Rätsel auf.
Der Mann im grünen Anorak ging in das Kaffeehaus und setzte sich ans Fenster. Die Frau im roten Kleid lief mit schnellen Schritten an Abby vorbei und stieg die Stufen zum Mausoleum hinauf. Abby drehte sich um, bewunderte die Architektur und sah den Mann mit der schwarzen Vliesjacke im Torbogen des Vestibüls fotografieren.
«Abby?» Mark ließ ihr keine Zeit für Bedenken. Er war hinter der Sphinx hervorgetreten und eilte über ausgetretene Stufen auf sie zu. Er trug einen dunkelblauen Wollmantel, Modell «Vernünftig», und einen gestreiften College-Schal. Freudig schüttelte er ihr die Hand.
«Wie wär’s mit einem Kaffee?»
So läuft der Hase also. Sie nickte.
«Haben Sie eine Empfehlung, wo wir einkehren könnten?»
Wollte er sie testen? Sie zuckte mit den Schultern. «Die Stadt war mal italienische Kolonie. Guten Kaffee müsste man an jeder Ecke bekommen können.»
«Nehmen wir das erstbeste.» Er führte sie in das Kaffeehaus und bot ihr einen Platz mit dem Rücken zur Tür an. Er setzte sich ihr gegenüber mit Blick auf Tür und Fenster. Der
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