Die Geheimnisse der Toten
Nachricht kam vor achtunddreißig Tagen um die Abendzeit. Wenn sie uns schon am Morgen erreicht hätte, wären wir jetzt tot. Galerius ist ein unverbesserlicher Trunkenbold: Alles, was sich nach Mittag ereignet, nimmt er erst am nächsten Vormittag zur Kenntnis. Aber wir waren ja inzwischen schon an die hundert Meilen entfernt und hatten einen Stall voll lahmender Pferde zurückgelassen.
Und nun sind wir in York. Die Festung steht auf einem von zwei Flüssen umspülten Hügel, der eckige Turm der Principia, des Hauptquartiers, ragt auf der höchsten Stelle auf. Jenseits des nahen, breiteren Flusses liegt die Stadt mit ihren Hafenanlagen, wo die vom Meer eingeschiffte Fracht gelöscht wird; dahinter breitet sich das Wohngebiet über einen Hügelhang aus.
Die Wachen vor dem Tor nehmen Haltung an, als sie uns kommen sehen, und als sie den Namen Konstantins hören, richten sie sich kerzengerade auf. Ein gutes Zeichen.
«Lebt mein Vater noch?», fragt Konstantin.
Der erste Wachsoldat nickt. Konstantin schaut zur Sonne auf und berührt voller Dankbarkeit seine Stirn.
Kaum haben wir die Principia erreicht, wird er von mir fort in irgendeine Kammer geführt. Ich vertrete mir in einem Gang die Beine und schaue mich um. Wachen schleppen schwere Kisten in die Säulenhalle vor dem Paradeplatz, während Offiziere auf Wachstafeln Buch führen. Alle scheinen genau zu wissen, was von ihnen verlangt wird.
Mit lauten Schritten, die von den Mauern widerhallen, kommen Konstantin und ein Tross von Generälen und Präfekten in voller Uniform um die Ecke gebogen. Offenbar hat er in der vergangenen Stunde Gelegenheit gefunden, sich das Gesicht zu waschen und einen goldenen Brustpanzer anzulegen. Es tut weh zu sehen, dass er an sein früheres Leben wieder anzuknüpfen gedenkt. Monatelang waren wir eng zusammen, zuerst im Palast, dann unterwegs auf den Straßen. Ich habe noch nicht damit gerechnet, dass sich nun alles ändert.
Als er an mir vorbeikommt, rufe ich: «Wie geht es deinem Vater? Wird er –»
«Er starb vor zwei Tagen.» Konstantin sieht mich nicht an und geht weiter. Sein Gefolge drängt sich schützend um ihn. «Der Präfekt der Prätorianergarde hat seinen Tod geheim gehalten, solange ich noch nicht hier war.»
Der besagte Präfekt stolziert neben ihm einher, hoch aufgerichtet unter seinem Helm, den ein Pferdeschweif ziert. Konstantins Gesicht verrät keine Regung. Unmöglich zu sagen, ob er mit der Entscheidung einverstanden ist oder nicht. Hatte er überhaupt eine Wahl?
Ich folge dem Tross durch eine Doppeltür hinaus auf den Paradeplatz, wo sich das gesamte Heer versammelt hat und brüllt, als Konstantin erscheint. Er hebt die Hände, um sich Ruhe auszubitten, aber niemand scheint zu gehorchen. Die Männer rufen seinen Namen und stampfen mit den Stiefeln auf, während Konstantin, die Arme weit ausgebreitet, vor ihnen steht. Unmöglich zu sagen, wer wen kontrolliert.
Ich kann mich im Nachhinein nicht genau erinnern, mit welchen genaueren Worten sich Konstantin an die Männer wendet, als es endlich still geworden ist. Er sagt, sein Vater sei vor einer halben Stunde verschieden, und sie geben ihrer Trauer lauthals Ausdruck. Er sagt, Galerius werde zu gegebener Zeit Constantius’ Nachfolger bestimmen; er selbst habe auf dessen Entscheidung keinen Einfluss.
Das gefällt den Männern nicht. Verärgertes Gemurmel schwillt an, doch dabei bleibt es nicht. Plötzlich gerät die ganze Menge in Bewegung. Die Leibwachen versuchen, sie zurückzuhalten, kommen aber nicht gegen sie an. Ein Dutzend Legionäre erstürmt das Podium; sie brüllen auf Konstantin ein. Ein unerhörter Vorgang, doch er rührt sich nicht. Er lässt es sich sogar gefallen, dass sie ihn packen und in die Menge ziehen. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Der Präfekt greift zum Schwert, wagt es aber nicht, die Klinge blank zu ziehen.
Und dann passiert etwas ganz Merkwürdiges. Niemand kann Konstantin sehen, aber aus irgendeinem Grund schlägt die Stimmung um. Die Mienen strahlen auf; der Aufruhr hat nichts Bedrohliches mehr. Das Gebrüll klingt nicht mehr wütend, sondern, im Gegenteil, freudig.
Konstantins Kopf taucht aus der Menge auf, als würde er gen Himmel gezogen. Der Lärm nimmt an Lautstärke noch zu. Im Gedränge hat es jemand irgendwie geschafft, ihm einen purpurnen Umhang umzulegen. Auf einem Schild hieven ihn die Männer in die Luft. Über ihren Köpfen wandert der Schild von Hand zu Hand und schwankt bedrohlich, doch Konstantin behält das
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