Die Geheimnisse der Toten
auf sich wirken.
Ein Kirchendiener kam auf sie zu. «Wollen Sie am Gottesdienst teilnehmen? Die Abendmesse hat soeben begonnen.»
Sie schaute ihn stumm an und nickte. Er führte sie in den holzvertäfelten Altarraum und ließ sie am Ende einer Bank mit hoher Rückenlehne Platz nehmen. Neben ihr saßen etliche andere Besucher. Brennende Kerzen verströmten ein wenig Wärme, während versteckte Scheinwerfer Licht- und Schattenmuster in dem hohen Gewölbe verteilten.
Die Gemeinde erhob sich von den Bänken, als der Chor «Nunc Dimittis» anstimmte. Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren. Auch Abby stand auf und schloss die Augen. Tränen und Regentropfen rannen ihr übers Gesicht. Sie fragte sich, ob man ihr ansah, dass sie weinte. Es kümmerte sie nicht. Sie dachte an eine kleine, weiß getünchte Kirche in Ealing, an einen ernsten Mann, der mit langem, weißem Gewand und goldener Stola auf der Kanzel stand. Ihr Vater.
Selig sind die Friedliebenden, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Was würdest du jetzt von mir denken?, dachte sie.
Das Lied war zu Ende. Sie hörte ein Flattern wie von Vögeln, als sich die Gemeinde wieder auf die Bänke setzte. Sie schlug die Augen auf und warf einen Blick auf das Portal unter den Orgelpfeifen, voller Angst, der Schattenmann könnte ihr gefolgt seien.
Aber die Tore waren geschlossen. Es kam niemand herein. Dahinter lag Dunkelheit.
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8
Konstantinopel – April 337
Ich bin müde. Ich laufe schon seit Stunden durch die Stadt, atme Hitze und Staub und finde niemanden, der mir etwas über den Mord in der Bibliothek sagen kann. Es gab Zeiten, in denen ich mühelos vierzig Meilen am Tag zurücklegen konnte, doch die sind vorbei und nur noch Erinnerung. An einem Brunnen spritze ich mir Wasser ins Gesicht und setze mich, den Rücken an die Mauer gelehnt. Kinder spielen auf der Straße und sehen mich nicht. Auch die Mütter ignorieren mich; sie haben, bevor es Abend wird, Besorgungen zu machen. Außerdem kennen sie mich nicht.
Ich habe für heute noch ein letztes Ziel. Es ist nicht weit, aber ich verfehle den Abzweig an der Ecke, wo die hübsche Bronzeskulptur eines Meeresgottes samt Streitwagen steht. Ich muss umkehren – und laufe fast wieder an der Ecke vorbei. Das Standbild ist verschwunden.
Typisch Konstantinopel, die Stadt der bewegten Statuen. Sie schauen von ihren Postamenten, aus Nischen oder von Dächern auf einen herab und werden zu ständigen Begleitern, Freunden und Führern. Dann wacht man eines Morgens auf und stellt fest, dass sie nicht mehr an ihrem Platz stehen. Geblieben sind nur Sockel, deren Inschriften weggemeißelt wurden; sie warten darauf, neu besetzt zu werden. Dass jemand eine Bemerkung darüber verlöre, ist natürlich ausgeschlossen.
Vor zehn Jahren gab es noch jede Menge leerer Postamente. Die meisten tragen inzwischen wieder eine Skulptur, aber ich vermisse die alten, die vertrauten Gesichter.
Alexander lebte in einer bescheidenen Wohnung über einer Taverne. Hinter dem Eingang führt linkerhand eine Treppe in die Obergeschosse. Ich steige hinauf.
Es ist nicht schwer, Alexanders Tür zu finden. Darauf aufgemalt sind die Buchstaben Chi und Rho. Das schwere Schloss hat offenbar nichts genützt: Die Tür steht sperrangelweit auf, wie von einem Luftstoß geöffnet. Dabei ist es windstill, und es hätte schon eines von Jupiter aufgewühlten Sturmes bedurft, um sie aus der Laibung zu reißen wie geschehen. Ich höre, dass sich in der Wohnung etwas bewegt.
Eine innere Stimme rät mir, das Weite zu suchen. Obwohl vom Alter her dem Tod nahe, will ich nicht schon jetzt abtreten. So wichtig ist mir die Aufklärung des Mordes nicht. Und ich könnte ja auch morgen wiederkommen.
Aber ich habe einen Dickschädel und bin noch nie davongelaufen, vor nichts und niemandem. Den Rücken an die Wand geschmiegt, riskiere ich einen Blick durch die Tür. Es ist dunkel in der Wohnung, trotzdem sehe ich, dass sie verwüstet wurde. Die Wandbehänge sind in Fetzen zerrissen; inmitten zahlloser Scherben von Geschirr liegt umgestürzt ein Regal am Boden. Und vor einem Tisch, auf dem sich Pergamente häufen, steht ein Mann, der darin herumblättert.
«Simeon?»
Er reißt vor Schreck den Kopf in die Höhe, als ich in die Türöffnung trete und mich vergewissere, dass sonst niemand zugegen ist. Gleichwohl halte ich Abstand, für den Fall, dass der Mann ein Messer
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