Die Geheimnisse der Toten
regnete immer noch heftig. Abby fand eine Ecke, an der sie sich unterstellen konnte, und holte Michaels Brief hervor. Es war kurz nach fünf – in Deutschland kurz nach sechs und wahrscheinlich Feierabend. Aber sie konnte nicht warten. Sie nahm ihr Handy, wählte die Nummer und hoffte, dass das Guthaben ausreichte.
Jemand antwortete auf Deutsch.
«Doctor Gruber, please.»
«Einen Moment, ich stelle Sie durch.»
Statt der Stimme war für eine Weile ein leiser digitaler Pulsschlag zu hören, der sie an das Krankenhaus in Montenegro erinnerte. Sie fröstelte. Am Ende der Straße löste sich ein Schatten von einem der Häuser und kam auf sie zu. Eine Gestalt mit langem, schwarzem Regenmantel und altmodischem Filzhut. Es war dunkel geworden, und der Regen trübte Abbys Blick. In dem formlosen Mantel sah die Gestalt aus wie ein Teil der Düsternis.
«Hallo?» Eine Männerstimme meldete sich am anderen Ende der Leitung, dünn und scharf.
«Dr. Gruber?»
«Ja.»
Der Schatten bewegte sich auf sie zu. Er mochte wer weiß wohin gehen, doch es schien, dass er genau auf sie zusteuerte. Sie schaute sich hilfesuchend um, aber die Straße war leer. Selbst die Häuser schienen ihr den Rücken gekehrt zu haben. Die mit weißem Tuch verhangenen Fenster waren blind wie Jennys leere Bilderrahmen.
Sind Sie allein gekommen? Warum hatte Jenny ihr diese Frage gestellt?
«Hallo?» Die Stimme klang ungeduldig, vielleicht ein wenig gereizt. Abby wandte sich ab und eilte davon, über ihre Worte stolpernd.
«Dr. Gruber? Sprechen Sie englisch? Mein Name ist Abby Cormac. Ich war eine Freundin von Michael Lascaris. Kannten Sie ihn?»
Nach einer vorsichtigen Pause hörte sie: «Ich kenne Mr. Lascaris.»
«Er ist –» Sie warf einen Blick über die Schulter. Der Mann im Regenmantel folgte ihr. «Er ist tot. Ich habe in seinen Unterlagen einen Brief von Ihnen gefunden und frage mich …»
Warum hat er nie von Ihnen gesprochen? Was hat er in Trier gewollt? Können Sie mir verraten, wer ihn getötet hat?
«Können Sie sich an ihn erinnern?», fragte sie zaghaft.
Sie bog in eine Geschäftsstraße ein. Ein Auto fuhr vorbei und ließ Wasser aus Pfützen aufspritzen. Abby legte einen Schritt zu.
«Natürlich erinnere ich mich an ihn», antwortete Dr. Gruber. «Tut mir leid, dass er tot ist. Er hat mich vor nicht allzu langer Zeit besucht.»
«Was wollte er?»
Der Regen rauschte so laut, dass sie nicht richtig hören konnte. Vielleicht bildete sie sich nur ein, dass Gruber einen anderen Ton anschlug. «Ich leite das Institut für Papyrologie. Sie wissen, was das ist? Wir beschäftigen uns mit antiken Dokumenten.»
«Aha.» Eine weitere Pause. «Ich wusste nicht, dass er sich für antike Dokumente interessierte.»
«Nein?»
Abby warf einen Blick zurück und sah sich immer noch von dem Schatten verfolgt. Er hatte offenbar aufgeholt, denn sie konnte jetzt zwischen Hutrand und Mantelkragen einen Ausschnitt des Gesichts erkennen, wenn auch keine Einzelheiten. Dafür war es zu dunkel und verregnet.
«Sind Sie noch dran? Würden Sie lieber ein anderes Mal anrufen?»
«Nein. Alles in Ordnung. Ich –»
Sie bog um eine weitere Ecke und sah plötzlich das Münster vor sich aufragen. Der Regen hatte den Straßenmusiker und die Touristen vertrieben. Sie glaubte, den römischen Legionär unter einem Torbogen zu sehen, war sich aber nicht sicher. Hinter ihr tappten eilende Schritte über das Pflaster.
«Wo sind Sie, Frau Cormac?»
«In England.»
«Könnten Sie uns besuchen?»
«In Deutschland?»
«Ja, im Landesmuseum in Trier. Ich glaube, ein Gespräch unter vier Augen wäre besser.»
Sie lief jetzt auf die Kathedrale zu und hoffte, dass sie noch geöffnet war. Waren Kirchen nicht Orte der Zuflucht? Ihre Brust schmerzte und drohte den Verband zu sprengen. «Können Sie mir bitte sagen –»
«Nicht am Telefon.»
«Irgendetwas.»
«Herr Lascaris hat mir eine streng vertrauliche Nachricht hinterlassen. Ich kann sie nicht –»
Der Schatten schien sich aufgelöst zu haben, doch sie wusste, dass er ihr auf den Fersen war. Abby hastete die Stufen hinauf und stieß die schwere Pforte auf. «Ich komme. Danke. Goodbye.»
Zum Glück waren mehrere Leute zugegen. Kirchendiener in roten Roben und Touristen in feuchten Anoraks, die Köpfe in den Nacken gelegt, um zur gewölbten Decke hinaufzublicken. Im Hintergrund war der helle, reine Klang psalmierender Chorknaben zu hören. Abby steckte ihr Handy ein, stand still und ließ den gewaltigen Raum
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