Die Geheimnisse der Toten
zieht.
Es sieht allerdings nicht danach aus, dass er über mich herfallen wird. Seine Angst ist offenbar größer als meine.
«Was hast du getan?», frage ich. «Warum –»
«Nein!» Er ist entsetzt. «So war es hier schon, als ich kam.»
«Wann bist du gekommen?»
«Es ist noch nicht lange her. Ich wollte Alexanders Bücher bringen. Aus der Bibliothek.» Er blinzelt und ist anscheinend kurz davor, in Tränen auszubrechen. «Seine Bücher waren wie Kinder für ihn, und er hätte nicht gewollt, dass sie in irgendeinem Regal verwaisen.»
Ich deute mit ausgestrecktem Arm auf das Chaos ringsum. «Und das?»
«War schon so, als ich kam», wiederholt er. Und dann, als spräche die aufgebrochene Tür nicht für sich: «Es muss jemand mit Gewalt eingedrungen sein.»
«Hast du einen Schlüssel?» Aber auch diese Frage beantwortet sich von selbst. Ich sehe ihn an einem Band an seinem Hals hängen. Ich nehme ihn und stecke ihn ins Schloss. Er passt.
«Das Schloss sieht neu aus.»
«Er hat es erst vor einem Monat einbauen lassen.»
«Ist irgendetwas entwendet worden?»
Simeon schaut sich mit offenem Mund um. «Ich weiß nicht. Ein paar Papiere vielleicht. Wertgegenstände besaß er jedenfalls nicht.»
«Was ist mit der Dokumentenschatulle, mit der er in der Bibliothek gesehen wurde? Was war darin?»
«In die hat er mich nie blicken lassen.»
Er gab dir den Schlüssel zu seiner Wohnung, wollte dir aber nicht zeigen, was in der Schatulle ist? Ich beuge mich über den Tisch und schaue mir die darauf verstreuten Schriften an. Der Kodex, den Simeon aus der Bibliothek mitgebracht hat, fällt mir als Erstes ins Auge. Aus den Seiten ist Blut gesickert, als wäre ein Teil von Alexander dazwischen zerdrückt worden.
Ich erinnere mich an Porfyrius’ Worte.
«Wie man mir sagte, arbeitete Alexander an einem Geschichtswerk – im Auftrag des Kaisers.»
Simeon strahlt übers ganze Gesicht. «Das Chronicon . Darin sollte alles festgehalten werden, was sich je ereignet hat.»
Er schlägt eine x-beliebige Seite auf. Ich bin verblüfft. Mit den Werken von Plinius oder Tacitus, die wir in der Schule lesen mussten, hat diese Schrift nichts gemein. Sie sieht vielmehr aus wie ein Register. Die Seite ist in Spalten eingeteilt, die scheinbar wahllos mit kurzen Absätzen gefüllt sind. An den Rändern stehen griechische und römische Zahlen, die stellenweise bis in den Text hineinreichen.
Tief darübergebeugt, versuche ich, ihn zu entziffern. Ich war nie gut im Griechischen, und was ich da lese, sind barbarische Namen und exotische Orte.
«Alexander wollte die Geschichte der Juden, der Griechen, Römer und Perser vom Anbeginn der Zeiten aufeinander abstimmen», erklärt Simeon. «Die ganze Schöpfung Gottes, wie sie sich über die Jahrhunderte entwickelt hat. Eine Landkarte der Zeit, die alle ihre Geheimnisse offenbart …»
Aber ich höre ihn nicht mehr. Es ist ein Buch der Zeit, jede Seite eine Tür, durch die man lesend hindurchtritt.
Im sechzehnten Jahr seiner Herrschaft starb Kaiser Constantius in der britischen Ortschaft York.
York – Juli 306 – einunddreißig Jahre zuvor
Blut liegt in der Luft, als ich in York einreite. Es hat uns auf unserer Reise Schritt für Schritt begleitet, tausend Meilen durch das Reich. Schon in dem Stall, von dem wir nächtens aufbrachen, die langen Messer nass vom Blut der Pferde, die wir lähmten. Blut an unseren Knien, Schenkeln und Händen, die wir uns am rauen Sattel aufgeschürft haben. Siebenunddreißig Tage, ein Gewaltritt und immer mit sorgenvollem Blick über die Schulter. Erst als wir die schmutzig weißen Klippen der Insel vor Augen hatten, konnte ich glauben, dass wir es schaffen würden.
Konstantin lebt schon seit einem Jahr von geliehener Zeit. Die verwickelten politischen Umstände lassen sich auf einen einfachen Nenner bringen: Er ist auf das Amt eines anderen aus. Zwei Kaiser teilen sich das Reich. Galerius herrscht über die östliche Hälfte, während Constantius, Konstantins Vater, den Westen regiert. Konstantin bleibt als Faustpfand an Galerius’ Hof in Sirmium zurück. Galerius weiß, dass nichts gefährlicher ist als ein kaiserlicher Erbe, der in der Luft hängt. Aber er kann den jungen Mann nicht töten, solange dessen Vater als Mitkaiser das Reich regiert. Also ermutigt er den Sohn, an entlegenen Orten gefährliche Tiere zu jagen oder Streit anzufangen mit barbarischen Stämmen, die für ihre Wildheit bekannt sind.
Jetzt aber liegt Constantius im Sterben. Die
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