Die Geheimnisse der Toten
gesprochen.»
Abby beugte sich vor. «Dr. Gruber, Michael wurde ermordet. Vor meinen Augen. Ich weiß nicht, was oder wie viel er Ihnen über sich anvertraut hat …»
Gruber kramte eine Schachtel Zigaretten aus der Schreibtischschublade und steckte sich eine an. «Er war sehr zurückhaltend, was seine Biographie betrifft.»
«Michael hat für die Europäische Union gearbeitet; der Mord an ihm dürfte weitreichende Konsequenzen haben. Die Polizei ermittelt noch. Ich bin sicher, sie wird jeden seiner Schritte während der letzten Wochen vor seinem Tod rekonstruieren – und unter anderem herausfinden, was in Ihrem Besitz war.»
«Sie reden ja fast so, als hätten wir strafbare Handlungen vorgenommen.» Dr. Gruber zog die Stirn kraus, um anzudeuten, dass er nicht etwa beleidigt, wohl aber ein wenig enttäuscht war. «Wir sind eine von öffentlichen Geldern geförderte Institution, die renommierteste ihrer Art. Wenn die Polizei Fragen an uns hat, werden wir selbstverständlich kooperieren.»
Abby hatte schon mit sehr viel schwierigeren Männern verhandelt und gelernt, sich durchzusetzen. Die Zigarette brannte schnell herunter. Dem Professor war anzumerken, wie sehr es in seinem Kopf arbeitete.
Das Dokument sei von unbekannter Herkunft , stand in dem Brief. Mit anderen Worten: Wenn niemand Anspruch darauf erhebt, wird er es behalten. Und das will er offenbar.
«Ich will nur einen Blick darauf werfen. Das Papyrus-Fragment war übrigens nicht das Einzige, was Michael mir hinterlassen hat. Es gibt noch etwas anderes, das auch für Sie interessant sein könnte. Aber zuerst will ich das Manuskript sehen.»
Ich zeige dir meins, wenn du mir deines zeigst.
Die Zigarette war bis zum Filter heruntergebrannt. Gruber drückte sie in einem kupfernen Aschenbecher aus und erhob sich. Er zog ein dickes Schlüsselbund aus der Tasche und schloss einen Aktenschrank auf, der neben dem Schreibtisch stand. Eine Metallkassette mit Zahlenschloss kam zum Vorschein. Grubers Zeigefinger schwebte über den Rädchen.
«Es wäre mir lieb, Sie behandelten die Sache vertraulich. Die Analyse ist nicht vollständig und könnte falsch interpretiert werden oder gar Verwirrung stiften.»
«Natürlich.»
Er öffnete die Kassette. In einem Bett aus Papiertaschentüchern und Watte lag ein dunkelbrauner länglicher Gegenstand, der Abby an ein versteinertes Holzstück erinnerte, das sie in einem Museum gesehen hatte. Gruber streifte sich ein Paar weiße Baumwollhandschuhe über und legte ihn in eine weiße Form, die offenbar aus Gips bestand.
«Sind Sie vertraut mit unserer Arbeit hier am Institut?»
«Ich habe Ihre Website gelesen.»
«Micro-CT. Das CT steht für Computertomographie. Aus zahlreichen Röntgen-Schnittbildern wird ein dreidimensionales digitales Abbild vom Untersuchungsgegenstand hergestellt. Dank der hohen Auflösung lassen sich Details in einer Stärke von nur fünfundzwanzig Mikrometern darstellen.» Abbys fragender Blick ließ ihn hinzufügen: «Das sind Winzigkeiten.»
«Verstehe.»
Er schob die Gipsform in ein Acrylgefäß und ging damit zu der Maschine, auf die Abbys Blick gefallen war, als sie den Raum betreten hatte. Sie sah aus wie die Kreuzung einer Mikrowelle mit einem Computer aus den frühen achtziger Jahren – zwischen zwei beigefarben lackierten Metallkästen befand sich eine kleine Kammer mit Glastür. Ein gelber Aufkleber am Rand warnte vor Radioaktivität.
«Ist es das?»
«Dass Michael Lascaris mit dem Fragment zu uns kam, war allein schon sehr ungewöhnlich. In der Regel werden Manuskripte dieser Art vor Ort in den Bibliotheken untersucht, in deren Besitz sie sind. Aus dem Grund haben wir uns dieses tragbare Gerät angeschafft.»
Er stellte die Papyrusrolle mitsamt dem Plexiglasbehälter aufrecht in die Kammer, schloss die Tür und drückte einen Schalter. Ein weißes Licht fiel auf den Behälter, der sich langsam um die eigene Achse drehte.
«Verzeihen Sie, aber was machen Sie da? Lesen Sie jetzt das Dokument mit Hilfe von Röntgenstrahlen?»
«So ungefähr. Zuerst müssen wir es aufrollen. Was mechanisch natürlich nicht zu bewerkstelligen ist. Ein solcher Versuch würde dazu führen, dass das Papyrus zerfiele, denn es ist über die Jahrhunderte spröde geworden. Wir nutzen Röntgenstrahlen, um ein 3D-Modell der Rolle anzufertigen, das sich dann mit einem speziellen Computerprogramm virtuell ausbreiten lässt wie zu dem Blatt, das einst beschrieben wurde.»
«Und dann kann man lesen, was
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