Die Geheimnisse der Toten
und blickte in einen leeren Raum.
Sie schleifte eine Mülltonne an die Wand, stieg darauf und stemmte sich aufs Dach des Anbaus. Die Wunde an ihrer Brust protestierte schmerzend. Die Zähne aufeinandergebissen, robbte sie über den Rand und fürchtete, sich die Narbe aufzureißen.
Ich will doch nur in meine Wohnung.
Schiere Wut half ihr weiter. Sie überquerte das mit Kies bedeckte Dach und griff sich dabei in die Seite wie nach einem Marathonlauf. Neben dem Fenster ihres Badezimmers stand unter einem abgesägten Fallrohr eine Tonne voll abgestandenen Regenwassers, das sie zur Toilettenspülung benutzte, wenn die Leitung trocken war. Michael hatte für diese Notlösung gesorgt, nachdem er zum wiederholten Mal eine volle Kloschüssel vorgefunden hatte.
Die Behelfsspülung war so häufig erforderlich gewesen, dass sie das Fenster nicht mehr fest zugesperrt hatte. Das sei gefährlich, hatte Michael immer wieder angemahnt, obwohl Priština trotz gegenteiliger Medienberichte eine der sichersten Städte Europas war. Abby griff in den Falz des Fensterflügels und zog daran, vergeblich zunächst, sodass sie annehmen musste, dass ein pflichtbewusster Polizist das Fenster verriegelt hatte. Aber es klemmte nur und schwang beim zweiten Versuch auf. Sekunden später stand sie in ihrer Wohnung.
Die Rückkehr in ihr Londoner Apartment war der vielen Veränderungen wegen, die sich zwischenzeitlich zugetragen hatten, ein Schock für sie gewesen. Was sie hier nun beinahe umwarf, war die Tatsache, dass sich nichts verändert hatte. Alles war noch genau so wie an jenem Freitagmorgen, als sie die Wohnung verlassen hatte, um zur Arbeit und später mit Michael zur Bucht von Kotor zu fahren. Das Geschirr stand immer noch im Abtropfgestell. Im Trockner steckte die kalt gewordene Wäsche, und auf dem Sofa lag eine Wochen alte Zeitung. In der feuchten Luft hing ein säuerlicher Geruch; alle Oberflächen waren staubbedeckt. Abby kam sich vor wie eine Forscherin, die ein ägyptisches Grab öffnet.
Ihr fröstelte. Die Wohnung mochte unverändert sein, aber sie selbst war nicht mehr dieselbe. Sie gehörte nicht mehr hierher. Und bei näherem Hinsehen war die Wohnung doch nicht so, wie sie sie verlassen hatte. Je länger sie sich umschaute, desto mehr Einzelheiten fielen ihr auf. Im Schlafzimmer war eine der Kommodenschubladen nicht richtig zugeschoben. Das Foto im Bücherregal hatte vorher im Fach darüber gestanden. Und die Tür zum Gästezimmer, die sie immer des Lichtes wegen mit einem Keil offen gehalten hatte, war zugefallen.
Wonach haben sie hier gesucht?
Plötzlich überkam sie Angst. Sie fühlte sich enteignet und abgestoßen von diesem Ort. Im Schlafzimmer packte sie ein paar Sachen zusammen, suchte im Schrank nach einem warmen Mantel. Auch das war schmerzvoll. Zwischen den auf Kleiderbügeln hängenden Röcken und Blusen fand sie auch Hosen und Hemden von Michael, die sich dort all die Male, wenn er über Nacht bei ihr geblieben war, eingeschlichen hatten. Abby ertappte sich dabei, dass sie mit der Hand darüberstrich, die Stoffe zwischen Daumen und Zeigefinger befühlte, als ließe sich ihnen ein kleiner Rückstand von Michael entlocken. Im Stillen tadelte sie sich dafür, konnte aber nicht anders und fing wieder an zu weinen, wogegen sie sich diesmal nicht wehrte, denn ihr war, als habe etwas, das ganz tief in ihr saß, endlich einen Weg nach draußen gefunden.
Ihre Finger glitten über ein Anzugjackett und hielten plötzlich inne, als sie unter den Nadelstreifen etwas Festes, Steifes ertastete. Sie fuhr mit der Hand in die Innentasche und zog ein schmales, rotes Lederheft daraus hervor. Unwillkürlich lächelte sie. Michaels Notizbücher hatten immer wieder für Lacher gesorgt. Von mindestens dreien wusste sie, aber wahrscheinlich hatte er sogar mehr geführt, unabhängig voneinander und in verschiedenen Formaten. Sie steckten in der einen oder anderen Tasche, lagen auf Schreibtischen herum oder standen mehr oder weniger zufällig in irgendeinem Regal. Wenn Michael einen Termin einzutragen hatte, griff er zu dem Notizbuch, das ihm gerade in die Finger kam. Als Abby seine Art der Buchführung einmal als ineffektiv kritisierte, tat er beleidigt. Ich bin halb Grieche, halb Ire , hatte er gesagt. Pünktlichkeit steckt halt nicht in meinen Genen. Umso bemerkenswerter fand Abby, dass er nie eine Verabredung mit ihr verschlampt hatte.
Sie öffnete das Heft und blätterte in den Seiten, durch Michaels letzte Wochen. Es stand nicht
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